Poesie als lebendiger Teil des Deutschunterrichts
Lyrik entdecken mit der Gedichte-Manufaktur
Lyrik in der Schule? Die wenigsten Erwachsenen werden eine gute – wenn überhaupt eine – Erinnerung daran haben. Möglicherweise denken sie dabei an quälende Interpretationen, an Reimschema, Versmaß oder das lyrische Ich. Doch muss die Poesie tatsächlich in einer solch unbeliebten Ecke verweilen? Schließlich kann sie ganz neue Räume eröffnen, sagt Juliane Ziese, die mit ihrer Gedichte-Manufaktur jede Menge frischen Wind in den Deutschunterricht bringen will.
Frau Ziese, wie war das mit dem Lyrikunterricht in Ihrer Schulzeit?
Juliane Ziese: Ich habe Lyrik in der Schule nie mit Freude verbunden. Ich erinnere da an nahezu gar nichts, höchstens an so demotivierende Fragen wie: ‚Was wollte der Autor damit sagen?‘
Trotzdem wurden Gedichte zu Ihrer Leidenschaft.
Juliane Ziese: Ich finde, dass Gedichte mehr oder verborgenere Räume öffnen können als Prosa es vermag. Es gibt da dieses Geheimnisvolle, eben diese sich öffnenden Räume und gleichzeitig ist Lyrik total dicht und konzentriert.
Und genau diese Faszination der Poesie haben Sie in die Gedichte-Manufaktur gepackt?
Juliane Ziese: Bevor das Buch bei Cornelsen erschien, habe ich die Gedichte-Manufaktur als Spiel entwickelt. Eine Kiste mit 422 Versstreifen, die man ziehen kann wie Spielkarten und schon kann man loslegen. Die Spielerinnen und Spieler können diese Versstreifen zu neuen Gedichten komponieren. Sie können das Originalgedicht zusammensetzen oder auf leere Papierstreifen eigene Verse aufschreiben. Es gibt dabei kein Richtig und kein Falsch. Der schwierigste Schritt ist, zu sagen: ‚Das mache ich jetzt‘. Erwachsene sind da oft zurückhaltend. Ich habe im Vorfeld im Freundes- und Bekanntenkreis Probanden gesucht und da gab es anfangs immer Widerstand. Lyrik ist nun einmal für die meisten etwas Fremdes, aber sobald sie sich darauf eingelassen hatten, sind ganz tolle Ergebnisse entstanden und die Leute waren richtig glücklich.
Sie haben von den wenig guten Erfahrungen mit Poesie in Ihrer Schulzeit berichtet. Wollen Sie mit der Gedichte-Manufaktur erreichen, dass die Schülerinnen und Schüler von heute andere, bessere Erfahrungen machen?
Juliane Ziese: Ja, ich dachte, es wäre doch schön, wenn die Gedichte-Manufaktur auch an Schulen eingesetzt würde. Aber ich musste die Erfahrung machen, dass es gar nicht so einfach ist, in das System Schule zu gelangen. Deswegen war ich sehr froh, als der Verlag die Idee hatte, die Gedichte-Manufaktur auch für die Schule zu entwickeln – als Buch und Kopiervorlage. Die Redaktion hat dann geschaut, welche Gedichte in den Lehrplan passen und ich habe einige Impulse gegeben, etwa, dass Autorinnen und Autoren ausgewogen vertreten sein sollten und dass es auch deutschsprachige Lyrik von Autorinnen und Autoren mit Migrationsgeschichte gibt. Ich bin sehr froh, dass wir zum Beispiel ein Gedicht von May Ayim in der Gedichte-Manufaktur haben.
Und wie funktioniert die Gedichte-Manufaktur im Unterricht?
Juliane Ziese: Sie funktioniert ganz einfach: Die Lehrkraft nimmt dieses Heft und guckt, welche Klasse habe ich und welches Thema ist gerade dran, und wählt ein Gedicht aus - vielleicht auch eines, das sie selbst berührt. Dann wird der Text für alle Schülerinnen und Schüler kopiert und die DIN-A4-Blätter werden ausgeteilt. Jetzt können die Kinder selbst aktiv werden und die einzelnen Versstreifen ausschneiden. So haben sie direkt mit dem Gedicht zu tun, physisch, haptisch, gestalterisch, ohne dass sie sofort den Text verstehen oder inhaltlich damit arbeiten müssen. Dann können sie schauen: Was steht auf einem Versstreifen, was steht auf der Rückseite, weil man es ja doppelseitig kopieren kann. Auf der Rückseite ist vermerkt, wer das Gedicht verfasst hat und welche Stelle die Verszeile im Original einnimmt. Schließlich können die Schülerinnen und Schüler verschiedene Möglichkeiten ausprobieren. Sie können die Verszeilen nach einem eigenen Sinn oder eigenem Gespür zusammenlegen und dann gucken: Passt es oder wie könnte es anders passen? Sie können auch verschiedene Gedichte einfach mischen. Mit anderen Worten: Sie können sich ganz langsam an die Lyrik herantasten. Mit einem Versstreifen als Impuls können sie auch eigene Verse schreiben. Sie können ihn zum Beispiel als Überschrift einsetzen und dann selbst etwas schreiben oder zwei, drei Versstreifen nehmen und dazwischen etwas schreiben, es gibt viele Möglichkeiten, die Gedichte-Manufaktur zu nutzen.
Haben Sie selbst Erfahrungen damit in Schulklassen machen können?
Juliane Ziese: Ja, ich war in einer neunten Klasse eines Berliner Gymnasiums. Die Lehrerin dort war sehr an Lyrik interessiert, fühlte sich aber in der Institution Schule mit dem Thema verloren. Mein Eindruck ist, es fehlt an Material, mit dem die Lehrkräfte arbeiten können. Ich habe dann in dieser Klasse einen Workshop gegeben und fand es sehr spannend zu sehen, wie die Schülerinnen und Schüler mit der Gedichte-Manufaktur umgehen. Einige waren skeptisch und fragten: „Mmm, was soll ich jetzt machen?“, andere haben sofort losgelegt und ein Junge, dessen Muttersprache gar nicht Deutsch war, hat so viel geschrieben, dass tatsächlich eine lange Ballade daraus entstanden ist, zwar mit vielen Rechtschreib- und Grammatikfehlern, aber die habe ich gar nicht beachtet. Es hat mich richtig glücklich gemacht, zu sehen, wie ein einziger Impuls diesen Jungen dazu gebracht hat, zu schreiben. Genau dafür ist die Gedichte-Manufaktur gedacht: die Schülerinnen und Schüler zum Schreiben zu bringen und ihnen diesen Raum zu eröffnen, in dem sie Sprache entdecken können.
Sollten die Gedichte anschließend auch vorgelesen werden?
Juliane Ziese: Ich würde auf jeden Fall empfehlen, die Gedichte anschließend auch vorzulesen, weil dabei immer etwas Neues entsteht. Meine Erfahrung ist, dass sich beim lauten Vorlesen noch einmal Räume öffnen, sowohl für diejenigen, die zuhören als auch für diejenigen, die vorlesen. Es sollte allerdings kein Zwang zum Vorlesen entstehen. Wenn es nicht klappt, würde ich einfach empfehlen, die Gedichte zuhause und für sich selbst laut zu lesen.
Sollten Gedichte grundsätzlich in der Schule stärker präsent sein?
Juliane Ziese: Jemand hat einmal vorgeschlagen, ich glaube es war der Kinderbuchautor und Lyriker Arne Rautenberg, dass jede Lehrerin und jeder Lehrer in der Schule zu Beginn der Unterrichtsstunde ein Gedicht vorliest - und zwar einfach nur vorliest, nicht kommentiert oder interpretiert. Danach beginnt dann - sozusagen übergangslos - der Unterricht, zum Beispiel mit dem Dreisatz. So werden Gedichte zu einem Teil des Alltags und verstauben nicht in der Lyrikecke. Es gibt genug Anthologien und wenn man davon eine auf dem Schreibtisch liegen hat, kann man jederzeit ein Gedicht vorlesen.
Eine sehr schöne Utopie! Was wünschen Sie sich unbedingt für die Lyrik in der Schule?
Juliane Ziese: Ich wünsche mir, dass Poesie wieder Spaß macht und ein lebendiger Teil des Deutschunterrichts wird, dass Schülerinnen und Schüler Spaß daran haben, mit Sprache zu spielen und zu entdecken, was Sprache alles leisten kann.
Info
Die Gedichte-Manufaktur enthält 36 Gedichte, die inhaltlich und formal zu Lyrikthemen aus dem Deutschunterricht der Sekundarstufen I und II passen. Jedes Gedicht ist Zeile für Zeile mit Abstand gedruckt. Auf jeder Zeilen-Rückseite sind der Name des Autors/der Autorin, der Titel des Gedichts, sowie die Position dieser Zeile im Gedicht zu finden. Diese Gedichte werden fotokopiert, an die Schülerinnen und Schüler ausgeteilt und Zeile für Zeile ausgeschnitten. Die Zeilen können auch vorab von der Lehrkraft ausgeschnitten werden. Außerdem enthält das Buch die vollständigen Gedichte noch einmal in Originalform und in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen der Autor/-innen.
Über die Autorin
Juliane Ziese hat in Paris Literaturwissenschaften studiert. 2018 gründete sie die Edition Lyrigma, in der die von ihr entwickelte Gedichte-Manufaktur LYRIGMA® erschien. Sie gibt Lyrik-Workshops für Kinder und Erwachsene, lebt und arbeitet als freie Autorin in Berlin und führt die Buchhandlung LYRIGMA, die sich auf Lyrik, Kinderbuch und Gestaltung spezialisiert hat.