Dr. Michael Rödel über die Abschaffung des Fehlerquotienten und den didaktischen Wert der qualitativen Rückmeldung
„Es stand nie zur Diskussion, die Rechtschreibung nicht mehr zu bewerten“
Als die schleswig-holsteinische Kultusministerin kürzlich erklärte, den sogenannten Fehlerquotienten bei der Beurteilung von Schülertexten zu streichen, schlugen die medialen Wellen hoch. Manch einer befürchtete eine Entwertung der Rechtschreibung. Andere begrüßten diesen Beschluss als didaktisch sinnvolle Maßnahme. Was also steckt hinter dem Fehlerquotienten und seiner Abschaffung? Das haben wir Dr. Michael Rödel gefragt. Er ist Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Herr Rödel, ich denke, wohl nur wenige Menschen wissen, was ein Fehlerquotient ist. Was genau steckt also dahinter?
Michael Rödel: Der Fehlerquotient ist eigentlich der Versuch, sprachlich-formale Leistungen vergleichbar zu machen. Wenn jemand 800 Wörter schreibt und macht dabei 16 formale Fehler, dann rechnet man einen Quotienten aus. Ein Text von nur 300 Wörtern und sechs formalen Fehlern hat dann denselben Quotienten, die Leistung wäre also in sprachlich-formaler Hinsicht vergleichbar.
Dabei geht es nicht um Diktate, sondern um andere Schülertexte?
Michael Rödel: In der Regel wird der Fehlerquotient für das Fach Deutsch angesetzt, und zwar bei Aufsätzen. Anders als beim Diktat schreibt hier ja jeder einen anderen Text. Durch den Fehlerquotienten wollte man die Leistungen vergleichbar machen.
Wurde oder wird der Fehlerquotient hauptsächlich in der Mittel- und Oberstufe genutzt?
Michael Rödel: So kenne ich es. Ich bin als Lehrkraft in Bayern allerdings völlig ohne Fehlerquotient aufgewachsen. Den gab es fast nirgends mehr - außer in Schleswig-Holstein
Michael Rödel
Professor für Didaktik der deutschen Sprache und LiteraturDas mediale Feuer hat sich eigentlich an einer Falschnachricht entzündet.
Trotzdem hat jetzt diese Abschaffung in Schleswig-Holstein so große mediale Wellen geschlagen.
Michael Rödel: Wenn etwas abgeschafft wird, besteht immer die Gefahr, dass große Wellen entstehen. Das war auch in diesem Fall so, obwohl explizit betont wurde, dass die Rechtschreibung weiterhin bewertet wird - und eben nur der Fehlerquotient nicht mehr berechnet werden soll. Das heißt, das mediale Feuer hat sich eigentlich an einer Falschnachricht entzündet. Es stand nie zur Diskussion, die Rechtschreibung nicht mehr zu bewerten. Es wurde lediglich die Art und Weise verändert, wie die Rechtschreibung bewertet wird.
Das heißt, mangelnde Rechtschreibung kann auch weiterhin einen negativen Einfluss auf die Note haben?
Michael Rödel: Ja, das ist auch weiterhin ein wesentliches Bewertungskriterium. Aber die Lehrkräfte müssen nicht mehr zählen, wie viele Wörter und wie viele Fehler ein Aufsatz hat. Und sie müssen auch die Fehler nicht mehr unbedingt vollständig erfassen.
Die Lehrkräfte haben jetzt also weniger Arbeit und können sich auf den Inhalt konzentrieren?
Michael Rödel: Lehrerverbände haben dem widersprochen. Es kostet immer erst einmal Energie, eine Veränderung umzusetzen. Und gerade Deutschlehrkräfte sind zeitlich sehr stark belastet. Wenn aber diese Veränderung umgesetzt wird, werden - da bin ich mir relativ sicher - die Lehrkräfte davon profitieren. Ich glaube, es kann auch dazu führen, dass sich die Lehrkräfte weniger unter Druck sehen, was die formale Korrektur angeht, und dass sie sich stärker auf den Inhalt der Texte konzentrieren können. Und der Inhalt des Textes soll ja beim klassischen Schulaufsatz im Mittelpunkt stehen.
Nun wird von den Lehrkräften stattdessen eine qualitative Rückmeldung erwartet. Ist das nicht auch sehr aufwendig?
Michael Rödel: Das ist wahrscheinlich eine Veränderung in Schleswig-Holstein, die – wie gesagt – erst einmal Energie kosten wird. Aber es wird, so glaube ich, sowohl für die Lehrkräfte als auch für die Schülerinnen und Schüler ein Gewinn sein. Denn in didaktischer Hinsicht ist es natürlich sinnvoll, wenn ein Schüler, eine Schülerin nicht einfach eine Arbeit zurückbekommt mit 30 angestrichenen Rechtschreibfehlern. Wenn aber die Lehrkraft zurückmeldet: „du hast Probleme mit der Groß- und Kleinschreibung, das musst du trainieren“, dann können die Betroffenen konkret daran arbeiten. Das heißt, Lehrkräfte können viel besser anhand des Gesamteindrucks eine Diagnose stellen. Auch weil sie die entsprechende Kompetenz dafür besitzen, wird das mit einem vergleichbar geringen Aufwand funktionieren.
Wenn etwas didaktisch sinnvoll ist, dann sollte es ja auch einen positiven Einfluss auf den Lernerfolg haben. Wird also die Rechtschreibfähigkeit der Schülerinnen und Schüler durch die Abschaffung des Fehlerquotienten möglicherweise gestärkt werden?
Michael Rödel: Dazu sind tatsächlich noch einige weitere Zwischenschritte nötig. Andersherum aber denke ich, dass man mit dem Fehlerquotienten didaktisch nichts gewinnen kann. Wenn man didaktisch etwas gewinnen will, dann braucht man eine qualitative Rückmeldung über Schwerpunkte.
Michael Rödel
Professor für Didaktik der deutschen Sprache und LiteraturAn den Rechtschreibkompetenzen arbeitet nicht nur der Deutschunterricht, daran arbeiten alle Fächer.
Sie haben neulich erklärt, dass der Wert der Rechtschreibung nicht mehr so hoch ist wie vor 35 Jahren. Wir brauchen sie aber wohl immer noch. Was kann also eine Lehrkraft tun, um die Rechtschreibkompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu verbessern?
Michael Rödel: Es gibt strategieorientierte Rechtschreibtrainings, die erfolgreich sind. Entscheidend ist, einen Konsens in der gesamten Schule darüber herzustellen, dass Rechtschreibung wichtig ist. Wenn alle Lehrkräfte darauf achten, dass richtig geschrieben wird, und wenn sie auch selbst immer darauf achten, richtig zu schreiben, dann trägt das Klima an der Schule - also die Einstellung aller Schulakteure - dazu bei, dass die Rechtschreibkompetenz der Schülerinnen und Schüler steigt. Ein Problem ist sicher, wenn im Deutschunterricht etwas gelebt wird, auf das im Biologieunterricht nicht geachtet wird. Denn an den Rechtschreibkompetenzen arbeitet nicht nur der Deutschunterricht, daran arbeiten alle Fächer.
Und wie sieht es mit der Grundschule aus? Da gab es ja in den letzten Jahren heftige Diskussionen über die Art und Weise, wie Kinder das Schreiben lernen sollten.
Michael Rödel: Ja, das lautgetreue Schreiben ist in Verruf geraten, und es wird auch kaum noch in Reinform umgesetzt. Man kann auf der anderen Seite aber auch nicht erwarten, dass Kinder der Rechtschreibung einen super hohen Stellenwert beimessen, wenn die Erwachsenen im Netz schreiben, wie sie wollen. Die Erwartung an die Grundschule, dass sie im Alleingang dafür sorgt, dass Kinder richtig schreiben lernen, ist vielleicht auch zu hoch. Wenn aber der Stellenwert der Rechtschreibung in der gesamten Gesellschaft hoch ist, dann tun sich die Grundschullehrkräfte sicher noch leichter damit, das gut zu unterrichten.
In Online-Medien - auch in den seriösen - fallen mir beinahe täglich Rechtschreibfehler auf, besonders bei der Verwendung von „dass“ und „das“. Und ich frage mich dann immer, wieso nutzen diese Medien kein Rechtschreibprogramm?
Michael Rödel: Ja, „dass“ und „das“ ist ein großer Fehlerschwerpunkt, für den es allerdings auch einen guten strategieorientierten Trainingsansatz gibt. Und natürlich sollten automatisierte Korrekturmöglichkeiten genutzt werden. Es gibt auch in digitalen Schulversuchen immer die Diskussion darüber, ob bei der Verwendung eines Textverarbeitungsprogramms die automatisierte Rückmeldung eingeschaltet werden darf oder nicht. Mit ihr bekommen Schüler sofort ein Feedback, ob ihre Schreibung richtig war oder nicht. Diese unmittelbare Rückmeldung ist ein großer didaktischer Vorteil. Also, denke ich, sollte sie auch genutzt werden.
Michael Rödel
Professor für Didaktik der deutschen Sprache und LiteraturDie unmittelbare Rückmeldung ist ein großer didaktischer Vorteil.
Wenn der Wert der Rechtschreibung in den letzten Jahrzehnten gesunken ist, wie hoch wird er noch in 20 Jahren sein?
Michael Rödel: Das kann ich nicht sagen, aber ich glaube, die Rechtschreibung wird weiterhin einen hohen Stellenwert haben. Ich weiß nicht, wie die digitale Entwicklung weitergehen wird. Es wird immer mehr Hilfsmittel und Möglichkeiten geben, aber um diese nutzen zu können, braucht man ein bestimmtes Grundwissen. Man kann auch nicht einen Taschenrechner nutzen, ohne über Mathematik Bescheid zu wissen. Man wird also das Rechtschreibniveau nicht beliebig nach unten nivellieren können. Man muss schon Wörter aneinanderfügen oder zusammenfügen können, man muss Sätze bilden können und man muss auch grundsätzlich wissen, woher die Wörter kommen, was sie bedeuten und wie sie geschrieben werden.