{Sprachsalon} Debattenkultur auf Social Media
Kommunikationsprobleme – verstehen und handeln
Ein Beitrag Medienpädagogin, Medienberaterin und Journalistin Lili Ewert. Sie hilft Menschen dabei, Medien(-systeme) zu verstehen und aktiv zu nutzen. In verschiedenen Formaten bildet sie Kinder, Jugendliche und pädagogische Fachkräfte in Medienkompetenzfragen weiter, inner- und außerschulisch, online sowie offline.
Stellen wir uns die sozialen Medien als einen Klassenraum vor.
In einem Klassenraum tummeln sich alle Arten von Menschen einer Gesellschaft. Es gibt Menschen, die besonders auffallen. Es gibt diejenigen, die alles können und wissen, genauso wie diejenigen, die andere korrigieren und überall ihre Meinung mitteilen. Es gibt Klassenclowns, die zur Erheiterung der ganzen Gruppe beitragen oder Themen sprengen. Es gibt die Charismatischen, die mit ihrer Präsenz und Wortgewandtheit jeden Raum einnehmen. Es gibt diejenigen, die vorgeben, was angesagt ist, und diejenigen, die in der letzten Reihe immer ein bisschen zu laut tuscheln. Dazu gibt es die Menschen, die eher im Hintergrund oder nur nebenbei anwesend sind. Es gibt Schlafende und Träumende und diejenigen, die kritzelnd zuhören. Es gibt diejenigen, die sich ihre eigenen Gedanken machen, doch diese für sich behalten. Es gibt diejenigen, die von anderen ausgegrenzt werden, und diejenigen, die sich selbst von den anderen abgrenzen und ihren eigenen Weg gehen.
In einem Klassenraum gibt es an Charakteren, Typen und Rollen alle Extreme und alles dazwischen.
Es gibt diejenigen, die sich an Diskursen immer aktiv beteiligen, manche beteiligen sich nur manchmal, manche nie. Es gibt diejenigen, die zuhören, und diejenigen, die von Beginn an aussteigen und auch bis zum Ende nicht mehr einsteigen. Es gibt gut durchdachte und geplante Beiträge sowie impulsive und undurchdachte.
Worüber gesprochen wird, welche Diskurse aufkommen und wie sie sich entwickeln, ist meist nicht direkt vorherzusagen. Es kann um alles gehen und um nichts. Themen ploppen einfach so auf oder entstehen aus einem gezielten Impuls heraus. Sie sprechen sich wie ein Lauffeuer herum oder werden nur geflüstert in ausgewählten Kreisen besprochen und verpuffen nach einer kurzen Zeit wieder. Es gibt Themen, die interessieren und betreffen alle, es gibt individuelle Interessen, und es gibt Themen, die so kompliziert und trocken sind, dass niemand Lust auf sie hat.
Kurz: Es gibt alle Kommunikations- und Gruppendynamiken, die wir uns vorstellen können, auf engstem Raum im Klassenzimmer. All diese Dynamiken gibt es genauso auf Social Media.
Die sozialen Medien sind Klassenräume, sie sind Abbilder davon. Nur, dass die sozialen Medien nicht auf maximal 30 Leute begrenzt sind, sondern theoretisch alle Menschen dieser Welt dort zusammenkommen könnten. Dadurch kann eine enorme Reichweite entstehen, alles passiert irrsinnig schnell, international und global. Algorithmen und Filter sortieren, was wir mitbekommen und was nicht. Zum Glück gibt es # und Verlinkungen, die uns einen Überblick über Gespräche und Diskurse verschaffen.
Frage: Was passiert, wenn so viele Menschen mit ihren eigenen Bedürfnissen und Geschichten in einem Raum zusammenkommen und nun miteinander umgehen müssen?
Es wird politisch.
Es geht um Macht.
Es geht um die Fragen: Wer wird gehört? Wer hat was zu sagen? Wer nimmt sich Raum, wem wird Raum gegeben? Wer bekommt die meiste Reichweite, die meisten Reaktionen, Shares und Likes – und damit Geld? Wer bestimmt den Diskurs, wer bestimmt, worüber Menschen reden?
Es ist wie im Klassenraum bei der Entscheidung, wohin der nächste Wandertag gehen soll: Setzen sich die Lautesten und Stärksten durch? Werden die Bedürfnisse der Stillen gehört? Bestimmt die Autorität der Lehrkraft über alle hinweg? Wird aus Prinzip gehandelt oder werden Argumente ausgetauscht? Geben immer die gleichen nach oder wird gemeinschaftlich verhandelt und ein Kompromiss gefunden?
Das „Kommunikationsproblem“ der sozialen Medien ist das gleiche des Klassenraums: Es ist ein Machtproblem und somit auch ein urmenschliches Problem. Es geht um das solidarische gesellschaftliche Zusammenleben. Mal klappt es (besser), mal nicht.
Die sozialen Medien haben uns allen ein Sprachrohr gegeben. Einen eigenen Kanal, durch den wir öffentlich teilhaben können. Dank der sozialen Medien kommen auch die Menschen zu Wort, die all die Jahre nicht gehört wurden, wir erleben ein Empowerment von marginalisierten Gruppen.
Theoretisch bieten die sozialen Medien eine Chance für eine global gerechtere, inklusive Gesellschaft. Alle könnten aktiv und selbstbestimmt am gemeinsamen öffentlichen Diskurs teilhaben.
Da wir jedoch ein Machtproblem haben, sieht es leider aktuell in der Praxis so aus, dass einige Menschen andere attackieren, ausgrenzen, bedrohen, vertreiben. Sie nutzen gezielt die Dynamiken der sozialen Medien, der Plattformen und unserer Köpfe, um Diskurse zu manipulieren.
BIPoC, LGBTQI+ und Frauen sind überdurchschnittlich oft von digitaler Gewalt betroffen. Dazu gehören Shitstorms, Beleidigungen, Nötigungen, sexuelle Belästigung, Stalking, Doxxing u. v. m, mit enormen Auswirkungen auf Psyche und Physis. Hinzu kommt, dass Algorithmen auch nicht vorurteilsfrei programmiert werden und somit beispielsweise Menschen mit Behinderungen und Menschen, die nicht der „allgemeinen Schönheitsnorm“ entsprechen, kaum Reichweite auf Plattformen wie TikTok erlangen und somit vom Diskurs ausgeschlossen werden.
Die sozialen Medien sind kein sicherer Ort für alle. Der Klassenraum ja leider auch nicht. Dabei haben wir es doch eigentlich selbst in der Hand. Die sozialen Medien sind unser gemeinsamer Raum. Also können wir auch gemeinsam entscheiden, was in unserem Raum passiert.
Kopiervorlage passend zum Thema
Debattieren hat in den Sozialen Medien eine andere Dynamik als in Face-to-Face-Debatten. Mit Hilfe der Kopiervorlagen wird versucht, die Schülerinnen und Schüler für richtige Verhaltensweisen in Sozialen Medien zu sensibilisieren und eine konstruktive Debattenkultur zu trainieren. Geeignet für Klasse 8–10.
Praxistipps
Gemeinsame Regeln/Netiquette
Im Klassenraum erstellen wir zum Schulstart gemeinschaftliche Klassenregeln. Solche „Community-Richtlinien“ können wir genauso für Klassenchats festlegen, wie auch für Social Media. Wir können entscheiden, was wir auf unserem Kanal dulden und was nicht. Verstößt jemand gegen unsere Netiquette, kann gemeldet, geblockt oder gelöscht werden. Wir können entscheiden, wer wir sein und wie wir miteinander umgehen wollen. Wir Menschen müssen uns nur fragen: In welcher Gesellschaft möchten wir leben? Wem überlassen wir unseren Raum?
Support und Reichweite
So, wie wir über unsere Verhaltensregeln entscheiden können, können wir auch steuern, welche Nachrichten Reichweite erlangen und welche nicht. Wir wissen eigentlich längst, dass Algorithmen Hate, Empörung und Populismus unterstützen. Gerade auf diese Nachrichten wird unheimlich häufig reagiert und in den Kommentaren interagiert. Algorithmen registrieren somit eine besonders hohe Relevanz und verbreiten diese Nachrichten. Der Hass und die Empörung erscheinen dadurch omnipräsent.
Eine steile These im Umkehrschluss ist: Würden genauso viele Menschen auf Liebe und Bildungsinhalte reagieren wie auf empörende News und Hate, würden dann nicht auch Liebe und Bildung omnipräsent erscheinen? Ja. Wir haben es selbst in der Hand – bzw. im Zeigefinger vor dem Like-Symbol.
Achtsamkeit
Viel zu oft vergessen wir, dass hinter den Buchstaben der Kurznachrichten Menschen sitzen mit ihren Gefühlen und Geschichten. Worte können triggern und verletzen, es braucht Achtsamkeit und Bewusstsein für Sprache. Würden wir denselben Satz, den wir schreiben, auch Menschen ins Gesicht sagen? Texte können auch missverstanden werden, war ein Satz jetzt ironisch gemeint oder nicht? Steht etwas zwischen den Zeilen? Wir können den direkten Kontakt suchen und nachfragen oder manchmal einfach das Gerät eine Weile zur Seite legen, uns abregen, Gedanken machen und erst später reagieren. Oder gar nicht. Auch schweigen ist Kommunikation.
Wir alle wissen längst, wie wir kommunizieren sollten und wie Kommunikation funktioniert. Wir machen das alle von klein auf und doch ist es für uns Menschen eine der schwierigsten Sachen überhaupt. Warum wir nach all den Jahren noch immer nicht gelernt haben, friedlich und solidarisch, achtsam, bedürfnisorientiert und freiheitlich miteinander umzugehen, sind große philosophische Fragen, die wir immer wieder diskutieren können, bis es uns gelingt. Ob im Klassenraum oder in den sozialen Medien.
Fortbildungstipps der Cornelsen Akademie
(Digitaler) Alltag & Medienwelt von Schülerinnen und Schülern
Schüler/-innen und das Smartphone in der Hand – ein gewohntes Bild, nicht nur im Schulalltag. Doch wofür genau benutzen sie diese? Wie hat sich das Verhältnis von Alltag und Medienwelt in den letzten Jahren verändert?
Achtsamkeit in Zeiten der Digitalisierung
In diesem interaktiven Workshop erfahren Sie, was Achtsamkeit bedeutet und inwiefern sie eine gute Partnerin der Digitalisierung sein sollte.