"Dürfen ältere Schüler uns denn unterrichten?"
Teil 2: Mein erster Tag im Referendariat
Wie wahrscheinlich für die meisten Referendare war der Beginn des Referendariats für mich sehr aufregend. Obwohl die vom Hauptseminar ausgehende Einführungsveranstaltung grob umreißt, was wann und wo im Referendariat so alles passiert, ist es doch eine ganz andere Nummer, wenn man dann im Schülergedränge vor den heiligen Hallen steht: Neue Schule, neue Kollegen, neue Schüler – zwischen Lehrer- und Schülerdasein weiß man noch nicht so richtig, was auf einen zukommt und ist doch schon mittendrin.
Die ersten Schritte
Erster Schultag nach den Ferien. Ich schlucke und atme tief die kalte Winterluft ein. Vor dem Eingang des gutbürgerlichen Gymnasiums in Berlin drängen sich Kinder verschiedenen Alters an mir vorbei. Ich stehe etwas unsicher vor der recht kleinen Eingangstür dieses doch recht großen Altbaus, wo ich die nächsten achtzehn Monate darauf vorbereitet werden soll, eine pädagogisch und fachlich kompetente Lehrerin zu werden. Um letztendlich die Zukunft unseres Landes zu erziehen und auszubilden. Puh. Da muss ich gleich nochmal tief durchatmen.
Da es Winter ist, wird mir langsam kalt draußen und so beschließe ich (gezwungenermaßen) den nächsten Schritt zu wagen, hinein in dieses große alte Schulgebäude, in welchem ich von nun an mehr oder weniger täglich arbeiten, lernen, lehren, erziehen und – ganz nebenbei – den ganz normalen Alltag des Schullebens kennenlernen soll. In dem Dschungel aus Bomberjacken, übergroßen modischen Mänteln und nicht der Jahreszeit angemessenen knappen Lederjacken (ich frage mich, wie man sich da nicht erkältet bei eisigen Temperaturen um die Null Grad), kämpfe ich mich zum Fuß der Treppe, um mir einen Überblick zu verschaffen, wo überhaupt das Sekretariat ist. Ich wende mich an ein Mädchen, das neben mir steht und die über ihrem bauchfreien Oberteil etwas anhat, das wie ein pinkes, explodiertes Lama aussieht. Wahrscheinlich wirklich warm das Ding. Sie erklärt mir freundlich, wie ich zum Sekretariat komme und ich marschiere los.
"Ach, Sie sind Frau Stark!"
Im Sekretariat angekommen, steht eine Schlange Schüler vor mir. Unsicher, ob ich einfach kurz vor die Schlange treten und nachfragen bzw. mich ankündigen soll, warte ich doch lieber bis ich an der Reihe bin. Als ich endlich an den Tresen trete, schaut mich die Sekretärin mit einem gelangweilten Blick über den Rand ihrer Brille an: "Was kann ich denn für dich tun? Brauchst du einen neuen Schülerausweis?" Etwas perplex stelle ich mich vor und erzähle stammelnd etwas davon, dass ich die neue Referendarin sei. Und ab heute anfange. Nun ändert sich ihr Blick von gelangweilt zu überrascht: "Ach, Sie sind Frau Stark! Entschuldigen Sie, Sie sehen so jung aus, da hab’ ich sie glatt für eine Schülerin gehalten! Moment, ich hole mal Frau Hase". Sie verlässt ihr Reich und geht in den Nebenraum und kommt mit einer nett wirkenden, noch etwas verschlafenen Schulleiterin herein. Die Schulleiterin, Frau Hase, schaut mich an und fragt: "Was kann ich denn für dich tun?" Die Sekretärin ist schneller als ich und klärt Frau Hase auf, dass vor ihr die neue Kollegin steht. "Ach, Sie sind Frau Stark! Entschuldigung, Sie sehen so jung aus, ich dachte Sie seien eine Schülerin!" Die Sekretärin nickt bestätigend, "Ja, Sie sehen wirklich noch sehr jung aus – Sie haben wohl nie geraucht, oder?" Ich bestätige, dass ich keine Raucherin sei, woraufhin sie zustimmend nickt und vor sich hin murmelt, dass man das gleich erkenne und ich später sehr froh darüber sein werde. Na, immerhin!
Der erste Auftritt in der Klasse
Nach der Besprechung einiger wesentlicher organisatorischer Dinge, der Aushändigung des Stundenplans und einer Lawine neuer Namen von Kollegen (ich stehe bis heute manchmal an der Tür und frage doof in die Runde im Lehrerzimmer, ob Herr Soundso oder Frau Soundso da sei), ist der Tag erst mal fast geschafft. Frau Schmidt, die Klassenlehrerin meiner achten Klasse, hat mir freudig verkündet, dass ich die Klasse dann in der vierten Stunde kurz kennenlernen könne, worüber ich mich riesig freue und gleichzeitig natürlich super aufgeregt bin. Wie sind sie drauf? Stimmt die Chemie zwischen uns? Ob ich mir alle Namen gut merken kann?
Pünktlich um 10:37 Uhr breche ich zu meiner achten Klasse auf. Schon zwanzig Meter vor dem Klassenzimmer höre ich etwas, was sich anhört, wie eine Herde lachender Bisons auf dem Durchmarsch. Ich betrete die Klasse und werde von einigen Schülern, die die Anwesenheit eines weiteren Lebewesens im Raum realisiert haben, kurz gemustert, ein wenig Verwunderung in manchen Blicken, dass ich am Lehrerpult stehe. Ein Mädchen schaut mich prüfend an und fragt, ob ich sie in Englisch unterrichten werde, was ich bejahe, während ich schon mal meinen Namen an die Tafel schreibe – die erstaunliche Wirkung beim Schreiben an die Tafel ist, dass Schüler automatisch darauf reagieren und sehen wollen, was man da zusammenkritzelt. Der Junge, der direkt vor mir sitzt, schaut mich mit ernster Miene an: "Dürfen ältere Schüler uns denn überhaupt unterrichten?" Obwohl diese Reaktion mich schon fast den ganzen Tag begleitet, weiß ich mit fast fünfzehn Jahren Altersunterschied nicht, ob ich mich bei dieser Frage eines Achtklässlers geschmeichelt fühlen, oder meine Erscheinung ernsthaft hinterfragen sollte. Es klingelt und meine erste Unterrichtsstunde beginnt.
Fazit des ersten Tages
Mein erster Schultag im Referendariat. Überhäufung von Informationen, Kollegen- und Schülernamen inklusive häufiger Erklärungen, dass ich wirklich so alt sei wie ich bin (vor Schülern und Kollegen) und eine kurze erfolgreiche Kennenlernstunde in meiner achten Klasse. Gar nicht so übel. Ein wenig erschöpft aber auch glücklich, viele hilfsbereite Kollegen und eine sehr nette Klasse zu haben, verlasse ich die heiligen Hallen wieder. Es war zwar viel und aufregend, doch gar nicht so schlimm. Die "Zukunft des Landes" kann erzogen und ausgebildet werden.
Rechts neben dem Schuleingang sehe ich eine Gruppe rauchender Oberstufenschüler (hoffe ich jedenfalls) und erkenne das Mädchen im pinken Lamamantel. Auf dem kleinen Balkon des Lehrerzimmers sehe ich Frau Hase und zwei andere Kollegen stehen, fröhlich winken wir uns zu. Ob es einen erwachsenden Eindruck macht, von der Gruppe Halbstarker rechts neben mir eine Kippe zu schnorren?
Die Cornelsen Referendariatskolumne
Marie Stark ist Mitte 20 und unterrichtet als Referendarin an einem Berliner Gymnasium die Fächer Englisch und Geschichte. Im Cornelsen Magazin berichtet sie regelmäßig über die bisher spannendste Phase ihres Lebens – das Referendariat.
Alle in der Kolumne verwendeten Namen sind Pseudonyme zum Schutz der Personen. Ansonsten ist aber alles echt – Realität Schule.
Weitere Artikel:
- Teil 1: "Stress dich nicht, das machen schon andere"
- Teil 3: Ist das wirklich meine Klasse?
- Teil 4: Soll ich es lieber gleich sein lassen?
- Teil 5: It’s time to say goodbye ... for now
- Teil 6: "Ist doch easy."
- Teil 7: "Haben Sie die Klausur schon korrigiert?"
- Teil 8: „Können Sie mir doch noch eine 3 auf dem Zeugnis geben?“
- Teil 9: 7 Dinge, die ich im Referendariat gelernt habe
- Teil 10: Meine 3 Top und Flop Momente im Referendariat
- Teil 11: Abschlussprüfung – Wie bereite ich mich am besten darauf vor?
- Teil 12: Nach dem Referendariat – jetzt geht’s erst richtig los
Fortbildungstipps der Cornelsen Akademie
Unterrichtsstörungen: Mit Körper und Sprache Wirkung erzeugen
Sie erfahren, welche Wirkung Ihr Auftreten hat und wie Sie diese bewusst nutzen.
Stimmlich fit im Unterricht: Einführung und Basistraining für die Stimme
Sie erfahren, welche Parameter Einfluss auf Stimme und Präsenz haben und wie Sie diese beeinflussen können.
Umgang mit Ungewissheit im pädagogischen Handeln
In ihrer Schulpraxis und insbesondere im pädagogischen Handeln haben es Lehrkräfte immer wieder mit völlig neuen Situationen und höchst unterschiedlichen Menschen zu tun. Damit geht häufig ein hohes Maß an Ungewissheit und vielleicht sogar Unsicherheit einher. In diesem Live-Online-Seminar wollen wir uns diesem sensiblen Themenfeld widmen.