Zehn Merkmale, die für jeden guten Unterricht gelten
Das Standardwerk von Hilbert Meyer erscheint in komplett überarbeiteter Neuauflage
Was ist guter Unterricht? Der Didaktiker Hilbert Meyer hat dafür vor 20 Jahren erstmals in seinem gleichnamigen Buch zehn Merkmale guten Unterrichts formuliert. Es wurde ein Long- und Bestseller, anders ausgedrückt: ein Standardwerk mit einer Gesamtauflage von über 150.000 Exemplaren. Jetzt ist die 16. Auflage erschienen. Haben die zehn Merkmale noch weiterhin Bestand und was bedeuten sie für das tägliche Unterrichten? Das wollten wir von Hilbert Meyer wissen.
Herr Meyer, Ihre zehn Merkmale guten Unterrichts sind inzwischen 20 Jahre alt, Schule und Gesellschaft haben sich in dieser Zeit stark verändert. Gelten diese Merkmale weiterhin?
Hilbert Meyer: In der Tat, die Ansprüche an die Gestaltung von Unterricht sind deutlich angestiegen: Kompetenzorientierung, Inklusion, Umgang mit immer heterogener gewordenen Schülergruppen, Digitalisierung, Kampf gegen Verschwörungserzählungen und Fake News. Schule, so lässt sich zusammenfassen, soll zum sozialen Kitt in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft werden. Da ist die Gefahr einer Überforderung groß. Aber man darf das Formulieren von Ansprüchen an modernen Unterricht nicht mit der Bestimmung von Qualitätsmerkmalen verwechseln. Letztere sagen, anhand welcher Kriterien überprüft werden kann, wie gut die neuen Anforderungen im Unterricht umgesetzt worden sind. Ein Beispiel: Digitale Medien sollen im Unterricht deutlich mehr als bisher genutzt werden – aber alle wissen, dass die Nutzung dilettantisch oder hoch professionell erfolgen kann. Und genau für diese Bestimmung der Qualität des Medieneinsatzes sind eigenständige Qualitätsmerkmale erforderlich, zum Beispiel zu den Fragen: War der Medieneinsatz klar strukturiert? War der Anteil echter Lernzeit hoch? Half die Lehrperson den Schülerinnen und Schülern, reflexive Distanz zu ihrer Mediennutzung herzustellen? Die bloße Zunahme digitaler Medien ist also noch kein Qualitätsnachweis. Es kommt immer darauf an, was man daraus macht. Für diese zweite Frage liefert mein Zehnerkatalog ein theoretisch begründetes und empirisch abgesichertes Angebot, das inzwischen auch vielfach in der Praxis der Lehrerbildung erprobt worden ist.
Nun zum zweiten Teil Ihrer Frage: Beim Überarbeiten nach zwanzig Jahren habe ich trotz gewissenhafter Prüfung keinen Anlass für eine grundsätzliche Neubestimmung der zehn Merkmale gefunden. Das liegt zum einen daran, dass unsere Vorstellungen von gutem Unterricht ziemlich stabil sind, zum anderen daran, dass die zehn Kriterien recht abstrakt formuliert sind und unterschiedliche Deutungen zulassen. Anders geht es gar nicht. Sie sollen ja für alle Fächer und Schulstufen gelten.
„Ich habe überlegt, was mir als Allgemeindidaktiker wichtig ist“
Dann fangen wir nochmal ganz von vorne an. Wie haben Sie diese Merkmale entwickelt?
Hilbert Meyer: Einen ersten Entwurf der zehn Merkmale habe ich 2002 in einem Seminar zusammen mit Studierenden der Universität Oldenburg erarbeitet. Dann habe ich mir internationale empirische Studien über lernwirksamen Unterricht angeschaut. Danach kam der für mich wichtigste Schritt. Ich habe alles, was ich da gefunden habe, bildungstheoretisch gewichtet, also nicht eins zu eins übernommen, sondern überlegt, was mir als Allgemeindidaktiker für das Wohlergehen der Schülerinnen und Schüler und für die professionelle Arbeit der Lehrpersonen wichtig ist. Deshalb die Orientierung des Buches an der nun schon 200 Jahre alten Bildungstheorie.
Der Verlag schreibt, dass die 16. Auflage komplett überarbeitet worden ist. Aber die zehn Merkmale sind gleichgeblieben. Ist das nicht ein Widerspruch?
Hilbert Meyer: Nein! Die Feststellung ist richtig, die zehn Merkmale sind aus den genannten Gründen weitgehend gleichgeblieben. Aber die erläuternden Texte sind nahezu vollständig neu verfasst und auch alle Grafiken sind neu gezeichnet. Zum einen, weil sich in der empirischen Forschung sehr viel getan hat, zum anderen, weil ich an diversen Stellen mit den alten Merkmalsbeschreibungen nicht mehr zufrieden war, zum dritten, weil ich mehr Anregungen geben wollte, was man tun kann, um die zehn Merkmale im eigenen Unterricht stark zu machen. Deshalb gibt es nun zu jedem Merkmal eine Untergliederung in drei oder vier Teilmerkmale und in ein Dutzend Indikatoren, mit denen man überprüfen kann, ob das Merkmal im eigenen Unterricht stark ausgeprägt ist oder nicht. Zusammengefasst: Das Buch ist in der 16. Auflage differenzierter und die Lektüre, so vermute ich, anspruchsvoller geworden.
Das Stichwort anspruchsvoll kann ich nach dem Lesen Ihres Buches nur bestätigen.
Hilbert Meyer: Ja, aber das liegt nicht an mir, sondern daran, dass sich der Forschungsstand weiterentwickelt hat und dass ich mich bemüht habe, Impulse für ein stärker theoretisch orientiertes Durchdenken des persönlichen Qualitätsverständnisses zu geben. Auch dafür ein Beispiel: Seit knapp 20 Jahren wird in der Forschung zwischen Oberflächenstrukturen des Unterrichts und Tiefenstrukturen des Lehrens und Lernens unterschieden. Urteile über die Oberflächenstrukturen sind einfach: Man kommt in eine Klasse und sieht sofort, ob es laut oder leise zugeht, ob ein freundlicher Tonfall herrscht, ob viele Schülerinnen und Schüler oder nur wenige ernsthaft an der Arbeit sind. Aber die wirklich spannenden Fragen sind die zur Tiefenstruktur, etwa:
- Sind die Lernvoraussetzungen angemessen erfasst worden? (Das hat, so der Neuseeländer John Hattie, bei allen von ihm gemessenen Variablen den allerstärksten Einfluss auf den Lernerfolg.)
- Ist die Lehrperson in den Augen der Schülerinnen und Schüler glaubwürdig? (Auch dafür hat John Hattie beeindruckend hohe Effektstärken berechnet.)
- Hatten die Schülerinnen und Schüler ausreichend Zeit, um die Aufgaben zu bearbeiten?
Solche Qualitätsurteile können nur Fachleute abgeben. Deshalb durchzieht diese Unterscheidung die ganze Neuauflage meines Buches. Sie soll sensibel machen, keine vorschnellen Urteile nach dem Motto „Frontalunterricht ist schlecht – Gruppenunterricht ist gut!“ zu fällen. Die Unterrichtswirklichkeit ist komplexer!
Ist die Reihenfolge der zehn Merkmale willkürlich oder aufeinander aufbauend?
Hilbert Meyer: Weder noch! Die Merkmale sind ganz bewusst wie ein Kranz um das herumgelegt, was ich das DIDAKTISCHE SECHSECK nenne. Es liefert die theoretische Rahmung, weil es alle wesentlichen Grunddimensionen von Unterricht erfasst.
Deshalb gehe ich davon aus, dass auch der drum herum gelegte Zehnerkatalog die ganze Aufgabe erfasst, die Lehrpersonen Tag für Tag bewältigen müssen:
- Klare Strukturierung
- Hoher Anteil echter Lernzeit
- Lernförderliches Klima
- Inhaltliche Klarheit
- Sinnstiftendes Kommunizieren
- Methodentiefe und Methodenvielfalt
- Individuelles Fördern im gemeinsamen Unterricht
- Intelligentes Üben
- Transparente Leistungserwartungen und -rückmeldungen
- Vorbereitete Umgebung
Wie sollten Lehrpersonen mit diesen Merkmalen arbeiten?
Hilbert Meyer: Die Merkmale sind so etwas wie Messlatten oder Barometer zur Qualitätsbestimmung des eigenen oder des bei anderen gesehenen Unterrichts! Man kann sich mit ihrer Hilfe die Stärken und Schwächen des beobachteten Unterrichts bewusst machen und Entwicklungsaufgaben identifizieren.
Geht das so einfach? Sie haben doch schon gesagt, dass die zehn Merkmale sehr abstrakt formuliert worden sind. Lassen Sie die Lehrerinnen und Lehrer beim Versuch, die Merkmale im eigenen Unterricht stark zu machen, allein?
Hilbert Meyer: Der erste Teil ihrer Feststellung ist richtig, der zweite nicht! Die zehn Qualitätsmerkmale sind abstrakte Chiffren für das, was mit Qualität gemeint ist. Aber ich mache ein Angebot, wie man die Merkmale für den eigenen Unterricht „kleinarbeiten“ kann. Dazu wird jedes Merkmal in drei oder vier Teilmerkmale untergliedert. Hinzu kommen Berichte zum Forschungsstand, Indikatorenlisten und einige Ratschläge, was man im eigenen Klassenzimmer tun und lassen sollte.
„Wichtiger als Vielfalt ist Methodentiefe“
Das heißt, Sie wollen nicht nur Kriterien formulieren, sondern auch noch Ratschläge und Rezepte geben?
Hilbert Meyer: Ja – wohl wissend, dass bei vielen meiner Fachkollegen das Rezeptgeben verpönt ist. Aber ich sehe das anders. Anfänger können und dürfen damit arbeiten. Sie liefern ihnen eine erste Orientierung, die dann schrittweise zu einer persönlichen Theorie guten Unterrichts weiterentwickelt werden kann. Aber die wenigen Ratschläge im Buch ersetzen keine Fachdidaktik, in die sich jede und jeder als erstes einarbeiten sollte.
Ich würde gern noch mal auf das sechste Qualitätsmerkmal Methodenvielfalt eingehen. Warum haben Sie hier die Methodentiefe hinzugefügt?
Hilbert Meyer: Weil ich gemerkt habe, dass manche Studierende, manche Ausbilder und Ausbilderinnen das Merkmal missverstanden haben. Es geht nicht darum, in jeder Stunde nach dem Gießkannen-Prinzip möglichst viele Methoden einzusetzen. Das verletzt den Grundsatz, dass Ziele, Inhalte und Methoden stimmig zueinander sein müssen. Und es erschlägt die Schülerinnen und Schüler. Wichtiger als Vielfalt ist Methodentiefe. Damit ist gemeint, dass die einzelne Methode kompetent genutzt wird und dass darüber nachgedacht wird, auf welchem Niveau die Schülerinnen und Schüler die Methode nutzen und ob sie wissen, warum diese Methode für diese Aufgabenstellung die richtige ist.
„Das wäre eine Super-Lehrkraft“
Das klingt alles plausibel, aber ich fürchte, dass sich viele überfordert fühlen dürften, weil sie denken, sie müssten all diese zehn Kriterien glänzend erfüllen?
Hilbert Meyer: Nein, das wäre ein Missverständnis. Ich sage an keiner Stelle im Buch, dass Lehrpersonen bei jedem der zehn Merkmale Spitzenleistungen bringen sollten. Das wäre eine Super-Lehrkraft, die bei mir eher Ängste auslösen würde. Noch einmal: Ich habe die Messlatten formuliert und nur angedeutet, was man tun kann, um das jeweilige Merkmal stark zu machen. Auch hier lohnt es sich, den aktuellen Forschungsstand zur Kenntnis zu nehmen. Er besagt, dass gerade sehr gute Lehrer und Lehrerinnen ein je individuelles Profil haben. Sie können mit Stärken im einen Bereich Schwächen in einem anderen Bereich ausgleichen. Das gilt für Profis ebenso wie für Anfängerinnen und Anfänger – wie schön!
Also darf man die zehn Merkmale individuell unterschiedlich gewichten?
Hilbert Meyer: Ja, ich habe schon gesagt, dass sich Lehrpersonen eine persönliche Theorie guten Unterrichts erarbeiten sollten. Das schließt ein, individuelle Schwerpunkte zu setzen. Auch hierzu ein Beispiel: Für mich ist das fünfte Merkmal „Sinnstiftendes Kommunizieren“ das wichtigste von allen, weil es auf Bildung zielt. Wenn aber jemand zu mir sagt „Klare Strukturierung ist für mich das wichtigste Merkmal“, dann sage ich: „Okay, damit können Sie gut leben und ich auch. Denn die empirischen Befunde sind ganz eindeutig: Wenn jemand den Unterricht klar strukturiert, steigt die Lernwirksamkeit.“
Guter Unterricht ist wichtig für die Schülerinnen und Schüler. Welche Bedeutung haben die Merkmale für die Lehrpersonen?
Hilbert Meyer: Meine zehn Merkmale sind – anders als die Kataloge meiner Fachkollegen – bewusst so formuliert, dass auch der Beitrag der Schülerinnen und Schüler zum Starkmachen des jeweiligen Merkmals erfasst wird. Nehmen wir das lernförderliche Klima. Das bedeutet keineswegs Kuschelpädagogik – es kann einschließen, dass ein Lehrer auch mal eine Standpauke hält oder dass sich eine Schülergruppe heftig beschwert. Zugespitzt formuliert: Die Schülerinnen und Schüler tragen Mitverantwortung für das Erfolgserlebnis ihrer Lehrerinnen und Lehrer!
„Wir brauchen mehr Handlungsspielräume“
In Ihrem Buch schreiben Sie auch über die mangelhaften Rahmenbedingungen. Was meinen Sie damit?
Hilbert Meyer: Man darf den Dank für guten und die Schuld an schlechtem Unterricht nicht einfach den Lehrpersonen in die Schuhe schieben. Man muss auch fragen: Was tun Politik, Schulaufsicht und Schulleitungen, um den einzelnen Lehrpersonen zu helfen, ihr Potenzial zu entfalten? Aber noch wichtiger als eine gute materielle Ausstattung und eine kollegiale Atmosphäre ist die Frage, ob die Beteiligten ausreichend Spielraum für kreative Lösungen erhalten. Es wäre ja ein Widerspruch in sich, wenn Lehrpersonen den Schülerinnen und Schülern helfen sollen, mündig zu werden, selbst aber durch ein Übermaß an bürokratischen Vorschriften am verantwortlichen Handeln gehindert werden. Ich bin mir sicher: Wir brauchen angesichts der immer größer werdenden Probleme an Regelschulen deutlich mehr Handlungsspielräume für deren kreative Bearbeitung. Deshalb sollten die Kolleginnen und Kollegen ermutigt werden, überall dort, wo dies nach ihrem fachkundigen Urteil erforderlich ist, auch mal einen Erlass kreativ umzudeuten. Aber das ist, um mit Fontane zu sprechen, ein weites Feld!
Zur Person
Hilbert Meyer ist emeritierter Professor für Schulpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er hat zahlreiche Werke zu Didaktik, Methodik und Unterrichtsentwicklung veröffentlicht.