Digitale Medien / 11.10.2021

Tablet-Klassen in der Grundschule

„Es macht Spaß, etwas Kreatives miteinander zu schaffen“ 

November 2019: Die Klasse 4c der Gemeinschaftsgrundschule (GGS) Gartenstraße in Hennef (Sieg) hat Besuch. Schulleiterinnen einer Nachbarkommune sind da, um sich den Unterricht von Klassenlehrerin Ulrike Gemein mal aus nächster Nähe anzusehen. Die 4c ist eine der wenigen deutschen Grundschulklassen, die seit dem ersten Schuljahr mit der Unterstützung von Tablets arbeiten. Was können iPads in der Grundschule leisten? Wie reagieren Kinder, wenn sie den ganzen Tag digitale Geräte zur Verfügung haben? Und was haben Lehrkräfte davon, wenn sie ihren Unterricht umstellen? Wir haben Ulrike Gemein gefragt, die seit vielen Jahren iPad-Klassen unterrichtet.

Bild: Shutterstock.com/Syda Productions

Ein Beitrag von Stefanie Barthold

Ulrike Gemein hat ihren Schüler/-innen bei der Vorbereitung des Unterrichtsbesuchs freie Hand gelassen. „Macht irgendetwas Digitales zum Thema Märchen“, hat sie ihnen am Vortag als einzige Vorgabe mit auf den Weg gegeben. Das beweist Mut. Und Vertrauen. Das Ergebnis: ein dreieinhalbminütiger Film, eingesprochen in etwas mehr als einer Stunde, aufgenommen mit Greenscreen-Technik; eine Gruppenarbeit von neun Kindern mit allem, was dazugehört – Requisiten, Hintergründe, Dialoge, Handlung. „Zum Glück haben unsere Gäste das fotografiert“, sagt Ulrike Gemein später. „Das hätte ihnen ja sonst keiner geglaubt.“

Kreativ sein. Etwas miteinander gestalten.

Diese Aspekte stehen im Vordergrund, wenn die Grundschullehrerin von den Vorteilen des iPad-Unterrichts spricht. Natürlich spare sie auch Zeit, beispielsweise dadurch, dass die Lern-App automatisch ein Feedback gibt, ob die Rechenaufgabe richtig gelöst wurde oder nicht. „Ich muss nicht selber alles korrigieren, das ist praktisch“, so die Pädagogin. Aber viel wesentlicher als die Zeitersparnis sei, dass die Kinder selbstbewusst und selbstverständlich mit den Geräten arbeiten und sich eigene Gedanken machen, was sich damit Sinnvolles produzieren lässt. So wie beim Greenscreen-Märchen. Oder 2016, als die Erstklässler lernten, Bilderbücher zu vertonen, noch bevor sie überhaupt schreiben konnten. Dass die Kinder dabei schon in jungen Jahren wertvolle Medienkompetenz entwickeln, versteht sich von selbst. Doch die entscheidenden Fähigkeiten, die Tablets im Unterricht besonders gut hervorbringen und fördern können, liegen für Ulrike Gemein im kreativen und sozialen Bereich.

Miteinander und voneinander lernen

Zum Schuljahresstart 2016/17 begann die Kooperation zwischen Cornelsen und der Grundschule in Hennef. Nicht nur die Kinder haben in den vergangenen vier Jahren viel dazugelernt. André Suhr, Produktmanager Grundschule bei Cornelsen, begleitete die Tablet-Klasse von Beginn an. Zwei-, dreimal im Jahr war er zu Hospitationen vor Ort. Im regelmäßigen Austausch mit Ulrike Gemein erfuhr er, mit welchen Verlagsprodukten die Lehrerin gerne arbeiten möchte und womit die Kinder gut zurechtkommen.

„Wir wollen genau verstehen, was die Bedürfnisse sind.“
André Suhr

Zuerst haben die beiden ein interaktives Übungsportal im Bereich Rechtschreibung aufgesetzt. Das Prinzip: Die Kinder übten online an ihren iPads, im Dashboard erkannte Ulrike Gemein, welche Fortschritte sie machten und in welchen Kompetenzbereichen Probleme auftauchten. Für Cornelsen war das eine erste Möglichkeit, Erfahrungen mit dieser Art von Lernmanagementsystemen zu sammeln. Es wurde deutlich, worauf die Kinder Wert legen und wo sich mögliche Stolperfallen befinden. Der nächste Schritt war die Erprobung des Leseförderungsangebots Leseo. Andre Suhr: „In dem gesamten Prozess ging es uns von Verlagsseite darum, zu lernen. Wir wollen niemanden, der Hurra zu all unseren Angeboten sagt. Wir wollen genau verstehen, was die Bedürfnisse sind.“

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Was André Suhr in der Klasse von Ulrike Gemein beobachtete, beeindruckte ihn: „Sie hat ein spezifisches Verständnis davon, was sie mit digitalen Medien erreichen möchte, und hebt sehr stark auf die Kompetenzen des 4K-Modells ab: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken. Man sieht ihrem Unterricht an, dass die Kinder in diesen Bereichen unheimliche Fortschritte gemacht haben. Das lässt sich schwer messen, aber rein intuitiv wird deutlich: Diese Lerngruppe hat anderen Kindern etwas voraus.“ Ob das an den digitalen Hilfsmitteln liegt? Nur teilweise, glaubt André Suhr. Eine solche Entwicklung habe immer auch viel mit der Persönlichkeit der Lehrkraft und der Art ihres Unterrichts zu tun.

Drei Fragen an Ulrike Gemein

Was können digitale Medien in der Grundschule leisten?

Ulrike Gemein: Grundschullehrer/-innen stehen heute vor der Aufgabe, einer Vielzahl von Kindern mit unterschiedlichem Entwicklungs- und Kenntnisstand passende Unterstützung anzubieten. Die Spanne an Voraussetzungen wird immer weiter und es wird immer schwieriger, nicht den pädagogischen Blick auf die förderungsbedürftigen Kinder zu verlieren. Hier können differenzierte digitale Übungsmaterialien eine große Hilfe sein. Und auch Lehrkräfte werden dort entlastet, wo sie mit dem „trocken Brot“ des alltäglichen Lehrer/-innendaseins zu tun haben: Fehlerkorrekturen, differenzierte Übungsangebote mit Audio (z. B. Laute hören und zuordnen) usw. Wenn intelligente Software ihnen diese Aufgaben erleichtert, können sie wieder stärker ihre eigentliche Rolle als Lernbegleiter/-innen und Pädagog/-innen wahrnehmen. Besonders sinnvoll ist der Einsatz der Tablets beim Erstellen von digitalen Produkten (z. B. E-Books, Präsentationen und Filmen) Hierdurch können auch schon Grundschulkinder so genannte “4K- Kompetenzen” (kritisches Denken, Kreativität, Kommunikation und Kollaboration) entwickeln. Davon ganz abgesehen macht es allen Beteiligten Spaß, weil die iPads viele Möglichkeiten bieten und den Unterricht bereichern.

Ist es nicht schlecht, wenn Kinder schon so früh auf Tablets fixiert sind?

Ulrike Gemein: Am ersten Schultag haben die Kinder die iPads bekommen und es war der totale Hype. Am zweiten Tag auch noch. Als ich dann angekündigt habe, dass wir jetzt jeden Tag damit arbeiten werden, wurde es ganz schnell ruhig. Mittlerweile liegen die iPads da, und die Kinder ignorieren sie. Es ist nicht so, dass sie die ganze Zeit davon abgelenkt sind. Sie legen sie meistens zur Seite, damit sie mehr Platz auf dem Tisch haben.

Vereinzeln die Kinder nicht, weil sie nur noch über ihrem iPad hängen?

Ulrike Gemein: Ganz im Gegenteil. Es macht ihnen Spaß, etwas Kreatives miteinander zu schaffen, in Kleingruppen. Darüber hinaus machen sie ja nach wie vor vieles auf Papier. Wir arbeiten mit Lernzeitplänen — da sind immer Übungen auf dem iPad dabei und welche im Buch. Die Kinder gehen da ganz unterschiedlich vor: Manche machen erst alles auf Papier, dann in der App, andere wechseln sich ab. Da hat jedes Kind seine Vorlieben. So lernen sie, was sie auch später mal brauchen, denn sie werden digital arbeiten, aber sicher nicht ausschließlich. Die Mischung macht’s.

iPads für alle: Die Kooperation geht weiter

Ulrike Gemein möchte die sinnvolle Nutzung digitaler Medien in der Grundschule weiter voranbringen und Berührungsängste abbauen. Im Laufe der Jahre sind sie und André Suhr ein erfolgreiches „Forschungsteam“ geworden. Zuletzt widmeten sie sich in einem Workshop einem Prototyp für Kreativtools, mit denen Kinder in der Lage sind, zu den Cornelsen-Lehrwerken kleine Bildgeschichten am iPad zu basteln. „Wir haben immer wieder konkret geschaut, wo in der Praxis der Schuh drückt und wie wir als Verlag bessere Lösungen anbieten können. Ich hoffe, solche hilfreichen User Journeys in den nächsten Jahren weiter austesten zu können“, so André Suhr.

Die Chancen stehen gut – die Kooperation zwischen Schule und Verlag ging im Sommer 2021 in die zweite Runde. Schulinterne Eindrücke haben den Erfolg des Projekts untermauert, sodass einer Fortsetzung nichts im Wege stand. Bereits seit August 2020 lernt wieder eine neue erste Klasse der Grundschule Hennef mit iPads. Klassenlehrerin: Ulrike Gemein.

Digital unterrichten

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Für André Suhr war schnell klar, dass die Zusammenarbeit nicht nach vier Jahren beendet sein würde: „Wir haben früh gemerkt, dass wir miteinander gut vorankommen und dass beide Seiten etwas davon haben. Außerdem erfordert es nun mal die Situation, dass wir praktikable Angebote schaffen. Es ist ja nicht so, dass digitale Medien in den Schulen schon flächendeckend eingeführt wären.“ Im letzten Jahr, so Suhr, sei viel Bewegung in die Diskussion gekommen. Stichwort: Corona. Die Nachfrage nach digitalen Materialien schoss im Frühjahr in die Höhe. Aufgabe des Verlages ist es, passende Lösungen bereitzustellen — unter anderem digital verteilbare Arbeitsblätter, interaktive Übungen, Erklärfilme … Ein kontinuierlicher Prozess.

Und noch eine weitere Entwicklung wird aktuell spürbar: Waren digitale Medien noch vor einigen Jahren eher ein Thema für die weiterführenden Schulen, rücken inzwischen auch die Grundschulen stärker in den Fokus. Warum? „Das hat viel mit den Zugangsmöglichkeiten zu tun“, erklärt André Suhr. „Ältere Kinder und Jugendliche haben Erfahrung mit Passwortzugängen, kommen mit einer Tastatur klar, sodass die früheren Lösungen für sie einfach besser funktionierten. Mittlerweile sind wir technisch weiter. Wenn wir kindgemäße, einfache Zugänge zu Lernangeboten schaffen, haben wir gerade in der Grundschule noch mal ein ganz besonderes Potenzial zur Unterstützung von Lernprozessen.“

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