Erfolgreich die Zweitsprache Deutsch lernen
„Es geht nicht um Grammatikvermittlung, sondern um Sprachvermittlung“
Etwa 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche hierzulande sprechen Deutsch als Zweitsprache. Laut Bildungsstatistik der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2022 liegt der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit nicht-deutscher Familiensprache in den Grundschulen sogar bei rund 40 Prozent. Wie lernen Kinder und Erwachsene eine Zweitsprache, welchen Stellenwert hat die Grammatik, vor welchen Aufgaben steht der DaZ-Unterricht und welche Rolle spielen die anderen Fächer? Das erläutert die Deutschdidaktikerin Magdalena Michalak in unserem Gespräch.
Frau Michalak, wie wichtig ist die Grammatik, wenn Erwachsene Deutsch als Zweitsprache lernen?
Magdalena Michalak: Es kommt immer darauf an, was wir erreichen wollen und wie wir Grammatik verstehen. Und gerade bei DaZ-Lernenden geht es um das Grundverständnis. Wozu brauchen die Neuzugewanderten oder diejenigen, die hier aufgewachsen sind, aber Deutsch als Zweitsprache erwerben, Grammatik? Sie brauchen sie funktional. Sie müssen die Grammatikregeln anwenden, aber sie brauchen nicht die Begriffe. Es geht um sprachliches Handeln, das ist unser Ziel im Unterricht. Es geht darum, mit den Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen zu sprechen, mit ihnen mündlich und schriftlich zu kommunizieren. Die Grammatik ergibt sich aus dem, woran wir gerade arbeiten. Das ist auch die Spezifik des Deutschen als Zweitsprache, dass wir immer wieder das aufgreifen müssen, was den Lernenden aus dem Alltag vertraut ist. Jeder bringt jeden Tag andere Strukturen mit. Und das beste Rezept ist, wenn man sich an den Inhalten orientiert, und Grammatik en passant thematisiert und die Stellen, die vielleicht herausfordernd sind, fokussiert.
Unsere Empfehlung für den DaF-Grammatikunterricht in der Erwachsenenbildung
„Ohne Übungen kommen wir nicht voran“
Und wie kann man das en passant machen?
Magdalena Michalak: Ganz einfach: Grammatische Phänomene werden thematisiert, wenn sie gebraucht werden. Das bedeutet, dass die Grammatikvermittlung nicht explizit erfolgt, in dem Sinne, ich vermittele die grammatischen Termini und wir besprechen jetzt die Regeln. Sondern ich schaue mir an, was hier gerade passiert. Beispiel Biologieunterricht. Hier schreibe ich Protokolle und muss darüber nachdenken, welche Textsorte das ist. Protokolle werden immer im Präsens und auch immer unpersönlich geschrieben, weil die protokollierten Versuche an jedem Ort von jeder Person durchführbar sein sollen. Nichtsdestotrotz, ohne Übungen, durch die die notwendigen Strukturen im Sprachgebrauch der Lernenden verankert werden, kommen wir nicht voran.
Und wie sehen diese Übungen aus?
Magdalena Michalak: Wiederholungen sind natürlich das A und O. Das heißt, ich muss Formulierungen mehrmals hören, mehrmals lesen, mehrmals selbst schreiben, um sie dann automatisch anwenden zu können, weil es um die Automatisierung von Strukturen geht. Der Weg führt nicht über Vereinfachungen und Vernachlässigung von grammatischen Phänomenen. Nein, es geht darum, den Lernenden komplexe Strukturen auch anzubieten und zu zeigen, wie sie diese verstehen können. Wir sprechen im Kontext des Deutschunterrichts und des Unterrichts für Deutsch als Zweitsprache von Sprachreflexion und nicht von Grammatik. Kinder und Jugendliche, die in Deutschland aufwachsen, entwickeln auch im Alltag das Gefühl dafür, wie sprachliche Phänomene in der deutschen Sprache funktionieren. Sie können es linguistisch nicht beschreiben, aber sie sehen diesen Unterschied zwischen alltäglichen und komplexen Formulierungen, die für die Schule notwendig sind. Die Aufgabe des Unterrichts ist es, diese auch zu systematisieren und gegenüberzustellen.
Inwieweit hat die Erstsprache Auswirkungen auf die Zweitsprache und ihre Grammatik? Und was muss ich dabei als Lehrkraft berücksichtigen?
Magdalena Michalak: Ich müsste wissen, welche Sprachen die Lernenden mitbringen. Ich kann mich aber als Lehrkraft nicht daran orientieren, dass zum Beispiel alle Menschen, die aus dem Irak kommen, Arabisch sprechen. Vielleicht ist ihre Erstsprache Aramäisch. Aus der Forschung wissen wir außerdem, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene oft mehr als eine Sprache mitbringen. Sie sprechen manchmal zwei, drei Sprachen auf unterschiedlichen Niveaus. Oder sie sind diesen in verschiedenen Lebenssituationen begegnet. Das heißt, auf diese Strategien, die vorhanden sind, auf das Wissen, diese Reflexion, wie Sprache funktioniert, zurückzugreifen, ist sehr, sehr wertvoll. Da gilt es, Ansätze wie Translanguaging, also das Switchen zwischen Sprachen, auch didaktisch immer wieder einzuplanen. Aber auch die Sprachen immer wieder mit einzubeziehen und anzuerkennen, dass die Lernenden Experten in diesem Bereich sind.
Wenn die Lehrkraft die Struktur der Erstsprache kennt, ist das natürlich von Vorteil. Das bedeutet aber nicht, dass sie diese Sprache sprechen muss. Mit der Zeit, mit der Erfahrung erfährt man viel von den Lernenden und man beobachtet, welche Tendenzen es gibt und welche Fragen zum Sprachvergleich gestellt werden. Und das ist wirklich ein Erfahrungsschatz, auf den die Lehrkräfte zurückgreifen können. Was ich aber sehr traurig und auch diskriminierend finde, ist, wenn Lehrkräfte immer wieder nur auf das Englische verweisen. Warum setzt man das Englische voraus, wenn man mit Personen kommuniziert, die in Vietnam, in Russland oder in einem anderen Land geboren sind?
Die Anerkennung der Muttersprache ist wichtig, sagen Sie. Erkläre ich also dann die Satzkonstruktion im Deutschen und frage: „Wie ist sie in deiner Muttersprache?“
Magdalena Michalak: Selbst, wenn ich meine Studierenden, die Deutsch als Zweitsprache auf Lehramt studieren, nach einer Erklärung zu bestimmten Strukturen des Deutschen frage, bekomme ich keine Antworten. Das ist eine typische Reaktion, davor möchte ich warnen, auch gerade kleine Kinder zu fragen: „Ja sag mal, wie ist das in deiner Sprache?“ Ad hoc weiß man es nicht. Man braucht Zeit zum Nachdenken. Es ist besser, mit Beispielen zu arbeiten. Es geht ja darum, ob und wie sie durch den Sprachvergleich unterstützt werden können. Man kann hier gestufte Hilfen als einen didaktischen Ansatz nutzen und in kleinen Schritten dazu animieren, die Erstsprache systematisch einzusetzen. „Wie würde das heißen?“ „Kannst du diesen Satz aufschreiben?“ Aber dann kommen wir an einen anderen wichtigen Punkt: Nicht alle können in ihrer Erstsprache schreiben. Das heißt, hier muss man sehr vorsichtig sein. Lernende, die auch schriftlich in ihrer Erstsprache sozialisiert wurden, können natürlich digitale Medien nutzen oder mit Wörterbüchern arbeiten. Und - diesen Part dürfen wir nicht vergessen – sie können anderen zeigen, dass sie einen Schatz mitbringen, sie sprechen mehrere Sprachen und sie können diese auch vergleichen.
Anders als beim Erlernen einer Fremdsprache in der Schule sprechen DaZ-Lernende Deutsch auch im Alltag. Welche Auswirkungen hat das auf den Unterricht?
Magdalena Michalak: Die Frage ist: Was will ich erreichen? Der Fremdsprachenunterricht vermittelt allgemeine sprachliche Kompetenzen für den Alltag oder für die Kommunikation in alltäglichen Situationen. Wenn ich hingegen in dem Zielland lebe, möchte oder sollte ich auch an dem gesellschaftlichen Leben teilhaben. Das bedeutet, wenn ich in den beruflichen Schulen bin, soll ich – zum Beispiel als Schreiner - mit den anderen auch als Schreiner kommunizieren. Und wie sprechen diese Personen? In der gesprochenen Sprache sagen sie vermutlich „du brauchst nicht kommen“ und verzichten auf die grammatikalisch korrekte Form mit „zu“. Sie nutzen auch Formen, die typisch für Dialekte sind. Für die Lehrkräfte gilt an dieser Stelle abzuwägen, welche Strukturen wirklich in den Fokus zu stellen sind beziehungsweise was dringend erworben werden muss.
Magdalena Michalak
Es geht auch darum, dass die Lernenden verschiedene sprachliche Register kennenlernen.
Es geht auch darum, dass die Lernenden verschiedene sprachliche Register kennenlernen. Wie spreche ich mit der Lehrerin, wie spreche ich mit dem Arzt, wie spreche ich mit dem Postboten oder mit der Verkäuferin. Und das kann ich nur kennenlernen, indem ich in verschiedenen Handlungssituationen kommuniziere. Die Herausforderung für die Lehrkraft ist, diese Situationen aus dem Alltag aufzugreifen und zu zeigen, dass in der Mündlichkeit andere Regel gelten als in der Schriftlichkeit. Schreibe ich zum Beispiel an den Schulleiter genauso, wie ich an einen Freund schreiben würde oder wie ich mit ihm spreche? Da sind wir wieder bei der Reflexion und bei dem Vergleich, wie die Sprache gebraucht wird.
Die Lehrkräfte im DaZ Bereich müssen sehr flexibel reagieren, weil die Lernenden natürlich unterschiedliche Zugänge zur Sprache haben und die Intensität ihrer Kontakte in der Zielsprache unterschiedlich ausfällt. Manche kommunizieren nur mit Personen aus anderen Ländern auf Deutsch und die Lehrkraft ist das einzige sprachliche Vorbild für sie. Manche spielen in einem Fußballverein. Es gibt andere, die gern ins Theater oder Museum gehen. Und das alles unter einen Hut zu bringen, gerade im DaZ-Unterricht, ist eine große Herausforderung für die Lehrkräfte.
„Es ist wichtig, dass alle Lehrkräfte an einem Strang ziehen“
Und welchen Stellenwert haben die anderen Fächer bei der Grammatikvermittlung?
Magdalena Michalak: Es geht nicht um Grammatikvermittlung, sondern um Sprachvermittlung. Das ist die Botschaft, die ich weitergeben möchte. Grammatik ist nur ein Werkzeug, mit dem wir als DaZ-Lehrkräfte arbeiten. Mit dem Werkzeug arbeiten auch die Kolleginnen und Kollegen in allen anderen Fächern. Hier geht es um die Vermittlung der fachlichen Kompetenzen. Die Lehrkräfte in anderen Fächern denken fachlich. Für sie sind die Endungen bei der Adjektivdeklination nicht entscheidend, sondern eben die Inhalte. Und das bringt auch - das wissen wir aus der Forschung - die Neuzugewanderten dazu, zu sagen: „Ich will nicht mehr im DaZ-Unterricht sitzen, ich möchte in den Fachunterricht. Im Deutschunterricht kann ich nie so gut werden wie die anderen. Dafür kann ich aber in den anderen Fächern glänzen.“ Hier geht es also auch um Motivation. Auf der anderen Seite wird die Sprache in den anderen Fächern sehr funktional vermittelt, was wiederum eine Chance für Spracharbeit bietet. Entscheidend ist, dass alle Lehrkräfte an einem Strang ziehen. Sehr wichtig sind auch Strategien, Erschließung- oder Memorisierungsstrategien zum Beispiel. Wie ist ein naturwissenschaftliches Protokoll aufgebaut? Wie lerne ich den Wortschatz? Die Grundlagen dafür vermittelt man im Deutschunterricht. Und es ist wichtig, dass alle Lehrkräfte auf diese Strategien verweisen und sie auch anwenden. Deswegen sind Absprachen zwischen Lehrkräften so wichtig.
Und das funktioniert?
Magdalena Michalak: Ja. Da kann ich nur auf das Projekt FörMig verweisen, in dem man schon längst gezeigt hat, dass es funktioniert, wenn alle Lehrkräfte sich absprechen, sich austauschen und die sprachliche Bildung als eine Querschnittsaufgabe verstehen.
Zur Person
Prof. Dr. Magdalena Michalak ist Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik des Deutschen als Zweitsprache an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.