Werteorientierung durch Achtung, Respekt und Toleranz
Achtsamkeit und Demokratiebildung in der Schule
Viele Jugendliche, so scheint es, entfernen sich immer weiter weg von der Demokratie. Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg konnte die AfD in der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen einen besonders hohen Zuspruch verzeichnen. Und laut einer aktuellen repräsentativen Allensbach-Umfrage in Nordrhein-Westfalen zum Thema Antisemitismus sind 16- bis 18-jährige auffällig israelfeindlich eingestellt.1 Wie lässt sich diese Entwicklung stoppen? Kann die Schule Demokratieverständnis fördern? Das haben wir Barbara Brüning gefragt, die emeritierte Philosophieprofessorin hat jetzt das Themenheft Achtsamkeit und Demokratiebildung für die Sekundarstufe I herausgegeben.
Frau Brüning, zunächst eine Frage zum Titel des Themenheftes: Was bedeutet eigentlich Achtsamkeit?
Barbara Brüning: Achtsamkeit bedeutet, dass jemand lernt, das, was um ihn herum passiert – also bestimmte Ereignisse in der Natur oder in der Gesellschaft – aufmerksam zu beobachten und dann auch die Erkenntnisse, die er daraus zieht, in das eigene Wertesystem zu übernehmen.
Und was hat das mit Demokratiebildung zu tun?
Barbara Brüning: Das hat mit Demokratiebildung insofern zu tun, dass ich natürlich nicht nur eine Art Selbstbeobachtung vornehme, sondern natürlich auch mitbekomme, wie ich mich anderen Menschen gegenüber verhalte, beziehungsweise auch verhalten sollte. Ich lebe ja nicht allein, sondern mit anderen zusammen. Und Achtsamkeit bedeutet dann auch, dass ich schaue, wie ich auf andere Menschen zugehe, wie sich andere Menschen verhalten und wie ich mich dann entsprechend vielleicht auch in meinem Verhalten ihnen gegenüber ändern könnte.
Das Themenheft bezieht sich auch auf das Verhalten von Menschen gegenüber der Natur. Denn Natur ist für mich eine Mitwelt. Es geht also nicht nur darum, wie sich Menschen untereinander verhalten, sondern auch, wie sie die Natur wahrnehmen und wie sie ihr Verhalten gegenüber der Natur gestalten. Ein weiterer Aspekt des Themenheftes ist der Umgang mit anderen Kulturen. Es gibt ja viele Menschen aus anderen Kulturen in Deutschland und die Frage ist, wie nehme ich diese Kulturen wahr: Empfinde ich sie als Bereicherung oder empfinde ich sie nicht als Bereicherung, und wie kann es gelingen, dass Menschen unterschiedlicher Kulturen ihr Zusammenleben gemeinsam gestalten?
Wie ist dieses Themenheft aufgebaut?
Barbara Brüning: Das Buch ist eine Sammlung von Arbeitsblättern, die man verstärkt zu den Themen, Wie sehe ich mich selbst? Wie sehe ich andere? Wie sehe ich die Natur? Wie sehe ich andere Kulturen? einsetzen kann. Die Lehrkräfte entscheiden dann, ob sie eher den Schwerpunkt auf die Selbstwahrnehmung legen möchten oder zum Beispiel auf das Zusammenleben mit anderen Kulturen. Sie schauen, wie sie bestimmte Arbeitsblätter zu Themen, die sie sowieso im Unterricht behandeln, vertiefend einsetzen können, oder neue Themenschwerpunkte setzen, die vielleicht bisher im Unterricht zu kurz gekommen sind, um das Nachdenken der Jugendlichen über sich selbst oder über ihr Verhältnis zu anderen zu fördern.
Das Nachdenken über sich selbst kommt in der Schule zu kurz
Ist dieses Nachdenken über sich selbst nicht schwierig für die Schülerinnen und die Lehrkräfte?
Barbara Brüning: Ich glaube, das Nachdenken über sich selbst, so wie ich bisher Schule auch wahrgenommen habe, kommt immer zu kurz, weil man natürlich bestimmte Lehrplanthemen hat, die man erfüllen soll oder erfüllen möchte. Aber durch dieses Themenheft lassen sich Themen wie Selbstwahrnehmung oder auch die Wahrnehmung von anderen Menschen, die Wahrnehmung der Umwelt, intensiver in der Schule in den Mittelpunkt stellen, als es sonst im normalen Unterricht geschieht. Darüber hinaus geht es auch um Konflikte und um Wertschätzung von anderen: Was schätze ich eigentlich an anderen? Und wie gehe ich zum Beispiel damit um, wenn jemand andere geringschätzt? Also auch Themen wie Wertschätzung, Geringschätzung oder Konflikte werden in diesem Themenheft angesprochen.
Barbara Brüning
Es ist wichtig, dass Jugendliche nicht nur im Fach Ethik, sondern auch in anderen Fächern lernen, über sich selbst nachzudenken, aber auch über die Gesellschaft.
Sie sagen, diese Themen kommen bislang in der Schule zu kurz. Könnte diese Vernachlässigung auch dazu geführt haben, dass Jugendliche sich eher radikalisieren, dass sie zu Mobbing und Hass neigen? Oder ist das zu weit hergeholt?
Barbara Brüning: Nein, das würde ich jetzt nicht als zu weit hergeholt betrachten. Es ist wichtig, dass Jugendliche nicht nur im Fach Ethik, sondern auch in anderen Fächern lernen, über sich selbst nachzudenken, aber auch über die Gesellschaft: Was ist mir wichtig und was ist mir nicht wichtig? Die Schule muss das eigene Nachdenken der Schülerinnen und Schüler über gesellschaftliche Probleme stärker fördern: Welchen Platz habe ich in der Gesellschaft? Was will ich erreichen? Welche Werte sind mir wichtig? Deswegen müssen wir uns für die wertorientierenden Fächer wie Ethik, Religion und Politik auch mehr Zeit nehmen und sie nicht in die Randstunden „verbannen“.
Und das könnte dann zu einer stärkeren Demokratiebildung bei den Jugendlichen beitragen?
Barbara Brüning: Ich denke, dass es wichtig ist, wenn Schülerinnen und Schüler lernen, darüber nachzudenken, was ihnen im Leben wichtig ist. Und sie müssen merken, dass ihre Meinungen, Wünsche und Überzeugungen in der Schule oder auch im Elternhaus ernst genommen und respektiert werden. Ich möchte mit dem Themenheft auch die Dialogfähigkeit fördern, und erreichen, dass Jugendliche gemeinsam versuchen, herauszufinden, was für sie in der Gesellschaft und im Zusammenleben bedeutsam sein könnte.
Es werden in den Arbeitsaufgaben immer wieder Impulse für Gespräche über kontroverse Themen wie zum Beispiel gerechtes oder geringschätzendes Handeln gesetzt, die dann im Klassenzimmer stattfinden sollen. Dabei geht es darum, auch unterschiedliche Meinungen kennenzulernen und damit vernünftig umzugehen, das heißt sie nicht ohne Diskussion von vornherein abzublocken. Denn das gemeinsame Streiten scheint mir zurzeit in unserer Gesellschaft zu kurz zu kommen. Dialoge über schwierige Probleme zu führen ist deshalb ein sehr guter Ansatz, der verstärkt in der Schule „geübt“ werden sollte. Dazu gehört auch die Methode des Perspektivwechsels, die ein wichtiges Element des Themenheftes ist. Sie regt Schülerinnen und Schüler an, sich in ein anderes Lebewesen zu versetzen und mit dessen Augen die Welt zu betrachten. Dadurch erhöht sich die Akzeptanz für andere Meinungen und Lebensstile.
Sie haben gesagt, es ist wichtig, die Arbeitsblätter nicht nur in Fach Ethik, sondern auch in anderen Fächern einzusetzen. Welche können das sein?
Barbara Brüning: Auch im Fach Politik kann man die Arbeitsblätter einsetzen, oder im Fach Deutsch. Denn hier werden ja in vielen literarischen Texte Probleme des Individuums, des eigenen Ichs und des gesellschaftlichen Zusammenlebens angesprochen. Und natürlich - nicht zu vergessen – auch im Fach Religion spielen Werte wie Achtsamkeit eine wichtige Rolle.
Sie erwähnen in Ihrem Buch sogar das Fach Biologie.
Barbara Brüning: Im Fach Biologie werden naturwissenschaftliche Zusammenhänge erörtert. Und es ist wichtig, dass man diese auch in einen gesellschaftlichen Zusammenhang stellt. Wenn ich im Biologieunterricht das Thema Biodiversität behandele, also den Erhalt der verschiedenen Arten von Pflanzen und Tieren, dann halte ich es auch für sehr wichtig, die Frage zu stellen: Was muss die Gesellschaft tun, damit diese Pflanzen und Tiere nicht aussterben? Welche Maßnahmen müssen wir ergreifen, um die Natur zu schützen? Was heißt überhaupt Naturschutz? Und da sehe ich dann auch im Biologieunterricht einen Zusammenhang mit ethischen oder gesellschaftlichen Themen.
Die Arbeitsblätter sollten fächerübergreifend eingesetzt werden, weil es auch in anderen Fächern ethische oder gesellschaftliche Fragestellungen gibt. Ich habe beobachtet, dass die Fächer in der Regel ihre Fachkompetenz einzeln entwickeln. Also das Fach Biologie thematisiert die Biodiversität. Die Ethik kümmert sich um die ethischen Probleme der Biodiversität. Mein Wunsch ist aber, dass dies mehr im Zusammenhang erfolgt. Also, dass Schülerinnen und Schüler auch in den Naturwissenschaften gesellschaftlich ethische Probleme besprechen. Und umgekehrt kann ich natürlich in Politik oder Ethik nicht über Biodiversität sprechen, wenn ich nicht weiß, was das ist. Man sollte also in der Schule versuchen, die Probleme nicht einzeln fachspezifisch zu behandeln, sondern sie in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Diesen Rat hat bereits vor mehr als 50 Jahren der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizäcker in seinem Buch „Die Einheit der Natur“ gegeben. Meine Hoffnung ist deshalb, dass Lehrkräfte mit den Arbeitsblättern des Themenheftes „Achtsamkeit und Demokratiebildung“ eine zusätzliche ethisch-gesellschaftliche Dimension in ihr Fach bringen können.
Zur Person
Barbara Brüning war Professorin an der Universität Hamburg mit den Schwerpunkten Didaktik des Ethik- und Philosophieunterrichts sowie Philosophieren mit Kindern. Sie hat zahlreiche Sach- und Lehrbücher im Bereich Ethikunterricht und ethische Erziehung veröffentlicht.
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