Denkfehler im Mathematikunterricht
Wie Schülerinnen und Schüler aus Fehlern wirklich lernen können
„Aus Fehlern wird man klug, drum ist einer nicht genug“, wusste schon Wilhelm Busch. Für die Schule galt diese Weisheit lange nicht, Fehler sollten beim Lernen möglichst vermieden werden. Mittlerweile gehört aber die Fehlerkultur zum didaktischen Handwerkszeug von Lehrkräften. Doch was heißt das konkret für den Unterricht? Zum Beispiel im Fach Mathematik. Das haben wir Attila Furdek gefragt. Der Mathematiklehrer hat jetzt das Buch Denkfehler als Bereicherung des Mathematikunterrichts herausgegeben.
Herr Furdek, zunächst eine ganz allgemeine Frage. Fehler gehören zum Leben, aber in der Schule sind sie eigentlich eher unerwünscht, oder ist das nicht mehr so?
Attila Furdek: Lange Zeit waren Fehler tabu, beziehungsweise ausschließlich negativ behaftet. Vor etwa 30, 40 Jahren gab es einen Sinneswandel, es entstanden Schlagworte wie „aus Fehlern lernen“. Es wurde seither von Fehleranalyse und offener Fehlerkultur gesprochen. Aber das ist nur die Theorie, in der Praxis ist leider viel zu wenig passiert. Und es ist immer noch tabu, darüber zu reden, dass Fehler nach wie vor negativ behaftet sind. Zum Beispiel bei persönlicher Betroffenheit, falls jemand selbst Fehler macht, und Misserfolge, Versagen und Frustration erlebt. Das wirkt demotivierend und bedeutet letztendlich auch schlechtere Noten.
Attila Furdek
Es fehlen die didaktischen Ansätze und Methoden für die Unterrichtspraxis.
Das heißt, wir können nicht wirklicher von einer guten Fehlerkultur reden?
Attila Furdek: Vermutlich weiß niemand so genau, wann eine gute Fehlerkultur bei uns verbreitet sein wird. Ich habe dazu ein eigenes Kriterium: Dann, wenn bei jeder Lehrprobe und bei jedem Unterrichtsbesuch erwartet wird, dass man auch Schülerdenkfehler gezielt thematisiert. Dabei berücksichtigt man auch, dass vieles unberechenbar und daher schlecht planbar ist. Man sollte dafür Lob bekommen, keine Kritik. Und eine bessere Note, keine schlechtere. Von diesem Zustand sind wir jedoch weit entfernt. Die Unterrichtsbesuche werden ja penibel vorbereitet. Aber bei den Fehlern kann man nicht alles genau vorausplanen. Man kann aber dafür sorgen, den Fehlern die positiven Aspekte abzugewinnen. Hierfür fehlen allerdings die didaktischen Ansätze und Methoden für die Unterrichtspraxis. Ich habe ein bisschen recherchiert. Da findet man dann in vielen Beiträgen Sätze wie „Eine offene Fehlerkultur ist auf jeden Fall ein Unterricht, an dem sich die Schülerinnen und Schüler gern beteiligen.“ Das klingt zwar gut, aber es bietet nichts Konkretes.
Und was wäre konkret?
Attila Furdek: Zum Beispiel eine Sammlung von typischen Schüler-Denkfehlern, auf die man im Unterricht zurückgreifen kann. In meinem Buch finden Sie dazu mehr als 100 Beispiele. Das ist oft besser, als auf Denkfehler zurückzugreifen, die von jemandem aus der eigenen Klasse stammen. Denn die persönliche Betroffenheit wird so vermieden. Ein Beispiel: Ich habe bei einem Unterrichtsbesuch erlebt, dass der junge Kollege die Schülerin Julia gelobt hat. Sie hatte einen tollen Denkfehler gemacht, lehrreich für die ganze Klasse. Und dieses Lob hat er noch zweimal wiederholt. Aber Julia war nur wütend. Sie hat mir nachher gesagt, sie werde nie wieder etwas im Mathe-Unterricht sagen. Ein gut gemeintes Lob kann also auch komplett nach hinten losgehen. Deswegen ist so eine Sammlung von neutralen Schüler-Denkfehlern aus meiner Sicht wichtig. Was man in vielen Schulbüchern seit einigen Jahren findet, sind so zwei, drei Zeilen zu kleinen Denkfehlern, nach dem Motto: Findet den Fehler. Diese Fehler sind nicht schlecht, aber betreffen meist nur die Rechentechnik und sind aus Schülersicht langweilig. Zudem sagt man auch nicht, wie man damit umgehen soll.
Die Spielmethode
Und wie sollte man mit Denkfehlern umgehen, zum Beispiel im Mathematikunterricht?
Attila Furdek: Im Buch stelle ich drei verschiedene Methoden vor: die Spielmethode, die Arbeitsblattmethode und die Tafelmethode.
Können Sie das kurz erläutern? Zum Beispiel die Spielmethode?
Attila Furdek: Die Spielmethode erleben die Klassen als sehr interessant und spannend. Es geht so: Die Lehrperson macht an der Tafel ab und zu bewusst typische Fehler. Bemerken die Schülerinnen und Schüler den Fehler, haben sie ein Tor geschossen, bemerken sie ihn nicht, dann hat die Lehrperson ein Tor geschossen. Das Ganze läuft wie eine Art Spiel zwischen der Klasse und der Lehrperson. Das jeweilige Ergebnis wird stets an der Tafel angezeigt. War die Klasse erfolgreich, dann gibt es eine Belohnung und bei 5 zu 0 für die Klasse werden sogar die Hausaufgaben erlassen. Manchmal lasse ich die Klasse schnell mit 4 zu 0 in Führung gehen, dann entsteht ein besonders hoher Spannungsfaktor. Alle sind motiviert und engagiert. Dabei achte ich darauf, nur Fehler einzubauen, die die Klasse in kurzer Zeit entdecken kann.
Sie schreiben, die Klärung eines Fehlers ist ein Erfolgserlebnis. Wie kommt das?
Attila Furdek: Also die Klasse fiebert mit bei diesem Tafelspiel. Und dann entsteht zum einen ein Gemeinschaftsgefühl und zum anderen wächst die Motivation, die Schüler wollen den Fehler unbedingt entdecken und ihn dann auch verstehen.
Die Arbeitsblattmethode
Neben dieser Spielmethode haben Sie noch zwei andere Methoden in Ihrem Buch vorgestellt. Das ist die Arbeitsblattmethode und die Tafelmethode. Was muss man sich darunter vorstellen?
Attila Furdek: Die Arbeitsblattmethode wende ich an, wenn die Fehler längere Gedankengänge und mehr Zeit erfordern. Die Schülerinnen und Schüler bekommen ein Arbeitsblatt. Auf der Vorderseite steht die Aufgabe, auf der Rückseite befinden sich verschiedene Schülerlösungen mit unterschiedlichen Ergebnissen. Alle wirken überzeugend, aber nur eine ist richtig. Die Schülerinnen und Schüler versuchen zunächst die Aufgabe selbst zu lösen. Anschließend sehen sie sich die vorgeschlagenen Lösungen auf der Rückseite an und überlegen, welche Lösungswege richtig beziehungsweise falsch sind und warum. Ihre Vermutung teilen sie dann der Lehrperson im Einzelgespräch mit. Lange Zeit habe ich den Fehler gemacht, die gesamte Klasse zu fragen, und ein schneller Schüler oder eine schnelle Schülerin gaben sofort die Antwort. Mit dem Ergebnis, dass alle anderen frustriert waren. Seit etwa 20 Jahren mache ich es anders. Entweder gehe ich hinaus vor die Tür, oder ich gehe in eine Ecke des Klassenzimmers. Die Schülerinnen und Schüler kommen einzeln zu mir, und versuchen mich von einem Lösungsweg zu überzeugen, nicht umgekehrt.
Die Tafelmethode
Und dann haben Sie ja noch die dritte Methode, das ist die Tafelmethode.
Attila Furdek: Ja, das ist eine relativ seltene Methode. Sie ergibt sich aus der aktuellen Unterrichtssituation, in der ein Schüler oder eine Schülerin eine Lösung mit etwa zehn Zeilen an die Tafel schreibt. Diese Lösung wirkt überzeugend, ist aber falsch. Dann schreibt die Lehrperson den richtigen Lösungsweg daneben. Nun muss die Klasse entscheiden, welcher der beiden Lösungswege richtig ist und warum. Denn nicht immer macht der Schüler an der Tafel einen Fehler, manchmal tut es auch – ganz bewusst – die Lehrperson. Wieder teilen die Schüler der Lehrperson einzeln ihre Vermutungen mit. anschließend wird das Ganze noch einmal in einem Unterrichtsgespräch mit der gesamten Klasse geklärt.
Attila Furdek
Man könnte den Schülerinnen und Schülern zeigen, dass selbst berühmte Mathematiker Fehler gemacht haben. Und die Klasse wird sehen: Diese Halbgötter waren auch nur Menschen.
Wie können sich Lehrkräfte, die vielleicht jetzt noch nicht so unterrichten, wie Sie das tun, dieser Thematik nähern? Wie können Sie Denkfehler wirklich in Ihrem Unterricht nutzen?
Attila Furdek: Sie sollten langsam einsteigen. Mit dem Buch steht ihnen eine umfangreiche Sammlung mit konkreten Methoden zur Verfügung. Wenn man einen didaktischen Ansatz zu Denkfehlern ausprobiert und merkt, dass dadurch die Klasse interessiert ist und motiviert wird, dann wird es beim zweiten Mal einfacher gehen und irgendwann wird es zur Routine. Am schwierigsten ist vermutlich der erste Schritt, zu sagen, ich versuche es mal.
Und wenn es nicht gleich klappt?
Attila Furdek: Also die Vorstellung, dass man sofort auf hohem Niveau mit Denkfehlern im Unterricht umgehen kann, ist übertrieben. Deswegen würde ich zunächst kleine Kuchen backen und mal nur einen Denkfehler pro Stunde ausprobieren. Am besten einen solchen Denkfehler, der häufig vorkommt. Ein weiterer Tipp ist, man legt sich selbst eine Sammlung zu, indem man die Denkfehler seiner Schülerinnen und Schüler festhält. Und irgendwann nach ein paar Jahren hat man schon einen eigenen kleinen Fundus. Einmal oder zweimal im Schuljahr könnte man etwas ganz Besonderes machen. Man könnte den Schülerinnen und Schülern zeigen, dass selbst berühmte Mathematiker Fehler gemacht haben. Und die Klasse wird sehen: Diese Halbgötter waren auch nur Menschen. Die Geschichte der Mathematik ist nämlich voll mit Fehlern.
Zur Person
Attila Furdek unterrichtet seit 1992 Mathematik am Gymnasium Heimschule Lender in Sasbach. Aus typischen Denkfehlern im Mathematikunterricht didaktisches Kapital zu schlagen ist ihm ein großes Anliegen. Neben zahlreichen Veröffentlichungen hält er auch Vorträge zur Fehlerthematik, unter anderem an Hochschulen und Weiterbildungsinstitutionen.