Geflüchtete Kinder: Psychologische Grundversorgung steht an erster Stelle
Wie Schulen und Lehrkräfte die besten Voraussetzungen für ukrainische Schülerinnen und Schüler schaffen können
Bisher sind mehr als 150 000 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, weitere 400 000 werden nach einer Schätzung der Kultusministerkonferenz erwartet. Eine große Aufgabe für Schulen und Lehrkräfte in einer Zeit, in der sie mit den Folgen der Pandemie, mit Lehrermangel und fehlenden Sachmitteln zu kämpfen haben. Dazu kommt: Die Schülerinnen sollten gleichzeitig auf eine Rückkehr in ihre Heimat und ein Bleiben in Deutschland vorbereitet werden. Geht das überhaupt und welche Hilfen gibt es? Können die Schulen das meistern und wer unterstützt sie?
Lehrerinnen und Lehrer kennen ähnliche Herausforderungen bereits, denn es ist für die Schulen nicht neu, geflüchtete Kinder aufzunehmen – spätestens seit 2015. Und sie wissen, dass es in einer solchen Situation besonders wichtig ist, zunächst auf die psychische Verfassung der Kinder und Jugendlichen zu schauen - mehr noch als auf ihre Bildung. Auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) nennt die psychologische Grundversorgung für ukrainische Kinder und Jugendliche sowie ihre Eltern an erster Stelle in ihrer aktuellen Stellungnahme. Dazu sollten spezifische Angebote wie zum Beispiel Gesprächsgruppen möglichst in ukrainischer Sprache und therapeutische Angebote für Kinder und Jugendliche mit schwerer klinischer Symptomatik gehören.
Hilfe vor Ort
Doch all dies wird nicht so ohne weiteres und nicht überall realisierbar sein. Es fehlen schlicht die Ressourcen. Dennoch kann den jungen Geflüchteten geholfen werden. Was etwa für Schulfeste oder Spendenaktionen bisher hervorragend funktioniert, kann auch jetzt genutzt werden: Die Zusammenarbeit von Lehrkräften, Eltern sowie Schülerinnen und Schülern. Es gilt, Anlässe zu organisieren, um die Eltern zusammenzubringen und die Kinder Schule in einer anderen als der Unterrichtssituation erleben zu lassen. Das können beispielsweise gemeinsame Ausflüge und Feiern sein, gemeinsames Kochen oder sportliche und kulturelle Ereignisse. Ein bereits vorhandenes Schulcafé leistet jetzt gute Dienste. Gerade für jüngere Kindern sind gemeinsame Unternehmungen mit den Eltern besonders wichtig. Ältere Kinder und Jugendliche brauchen möglicherweise Unterstützung bei der Kontaktaufnahme und Vernetzung mit deutschen Jugendlichen. Das funktioniert am besten über gemeinsame Interessen wie Musik oder Sport. In vielen Schulen sind die Schülervertretungen bereits in diese Richtung aktiv geworden. Auch die Schule selbst kann hierbei mit speziellen Angeboten oder schlicht nur mit der Bereitstellung von Räumen oder Materialien unterstützen. Außerdem kann sie außerschulische Bildungs-, Freizeit- und Sportangebote mit einbeziehen.
Getrennt oder integrativ?
Sind Vorbereitungsklassen für die neuen Schülerinnen und Schüler der bessere Weg oder bietet die Integration in den regulären Unterricht mehr Vorteile? Hier gehen die Meinungen auseinander, allerdings schlägt die SWK vor, möglichst keine Vorbereitungsklassen in der Grundschule und in den unteren Jahrgangsstufen des Sekundarbereichs einzurichten und die Kinder stattdessen in die Regelklassen zu übernehmen. Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sieht spezielle Sprachklassen nur als Übergangslösung. Schulen haben bislang ihre eigenen Integrationskonzepte, die sie angesichts der aktuellen Situation noch einmal auf den Prüfstand stellen oder auch übernehmen können. Und: Es gibt auch die Möglichkeit, beides zu kombinieren. So wie etwa in Schleswig-Holstein. Dort verfolgt man einen teilintegrativen Ansatz. In den sogenannten DaZ-Zentren, den Vorbereitungsklassen für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, werden Kinder und Jugendliche an einem zentralen Ort zusammen unterrichtet. Parallel besuchen sie von Anfang an auch den Regelunterricht. Das Verhältnis der Unterrichtszeit im DaZ-Zentrum und im Regelunterricht verschiebt sich dann mit ihren wachsenden Deutschkenntnissen.
Deutscher oder ukrainischer Unterricht
Ukrainische Lehrkräfte konnten in den vergangenen Monaten relativ unbürokratisch in Schulen in Deutschland eingesetzt werden und Unterstützung leisten. Schließlich ist es für die Kinder und Jugendlichen gerade jetzt wichtig, ihre kulturelle Identität zu behalten. Dennoch spielt herkunftssprachlicher Unterricht oder Fachunterricht auf Ukrainisch an Schulen bislang eine eher untergeordnete Rolle, wie eine Umfrage der Robert Bosch Stiftung ergab. Darin wurden Präsenzunterricht durch ukrainische Lehrkräfte oder Online-Unterricht jeweils nur von einem Prozent aller Befragten genannt.
Tatsächlich könnten ukrainische Lehrkräfte viele Schülerinnen und Schüler über digitalen Unterricht erreichen. Der New Ukrainian Schoolhub, eine Plattform der European EdTech Alliance e.V. und des Learning Together Projects, informiert in englischer und ukrainischer Sprache über Online-Lernplattformen oder digitalisierte Materialien für ukrainische Schülerinnen und Schüler.
Alle Bundesländer haben außerdem umfangreiche Infos und Materialien – auch in ukrainischer Sprache - online gestellt. Lehrkräfte finden diese auf den Bildungsservern ihres Bundeslandes. Und die Schul- und Bildungsclouds der Länder Niedersachsen, Brandenburg und Thüringen stehen unterdessen auch auf Ukrainisch zur Verfügung.
Auf der Plattform MUNDO schließlich, der offenen Bildungsmediathek der Länder, kann außerdem bereits eine Vielzahl ukrainischer Bildungsmaterialien heruntergeladen werden. Mit einer einfachen Suche können die passenden Bücher, Arbeitsblätter und weitere Unterlagen für Schulfach und Kassenstufe gefunden werden.
Eine Antwort auf die schwierige Frage „Ukrainischer oder deutscher Schulunterricht?“ sehen die Robert Bosch Stiftung und die Bertelsmann Stiftung im sogenannten “Pädagogischen Drehtürmodell”. Dabei sollten die ukrainischen Schülerinnen und Schüler für eine gewisse Anzahl an Schulstunden mit Unterrichtsinhalten aus ihrer Heimat lernen und den Rest des Schultages im Regelunterricht verbringen.
Die Kultusministerkonferenz hat sich ebenfalls zu diesem Thema geäußert. Und zwar recht deutlich: „In den Ländern besteht zudem Konsens, dass das Erlernen der deutschen Sprache und die Integration in das deutsche Schulsystem Priorität haben und dass der Online-Unterricht der ukrainischen Seite, nach ukrainischen Vorgaben und/oder mit ukrainischen Lehrwerken, grundsätzlich nur als flankierende Maßnahme zu betrachten ist“, heißt es in der Pressemitteilung der KMK vom Mai 2022.
Kostenlose Downloads Deutsch – Ukrainisch
Ukrainische Flüchtlingskinder müssen in den deutschen Schulen meist zunächst in der deutschen Sprache alphabetisiert werden - und das in allen Schulformen, von der Grundschule bis in die weiterführenden Schulen. Setzen Sie dabei unsere deutsch-ukrainische Anlauttabelle ein.
Einstufung und Lernstand
Lehrkräfte müssen wissen, auf welchem Lernniveau sich ihre Schülerinnen und Schüler befinden, um sie individuell fördern zu können. Dafür gibt es bereits bewährte Diagnosetools und Fördermaterialien. Doch wie kann der Lernstand der ukrainischen Schülerinnen und Schüler festgestellt werden, wenn die Sprachbarrieren noch groß sind und ukrainischen Lehrkräfte fehlen? Ein Beispiel liefert das Programm 2P. Das landeseigene Tool steht allen Schulen in Rheinland-Pfalz kostenfrei zur Verfügung und beinhaltet auch spracharme Aufgabenstellungen, so dass es selbst bei Schülerinnen und Schülern mit geringen Deutschkenntnissen eingesetzt werden kann. Lehrkräfte in anderen Bundesländern könnten in den Tools, die sie nutzen – egal ob Arbeitsblätter oder Online-Angebote – nach solchen Aufgaben suchen, beziehungsweise sie selbst ergänzen.
Fazit
Vielfach hängt es von der Situation vor Ort ab, ob ein geflüchtetes Kind ausreichend psychosoziale Unterstützung bekommt, ob es eine Regelklasse oder eine Vorbereitungsklasse besucht und ob es weiterhin auch muttersprachlichen Unterricht erhält. Die Schulen und Lehrkräfte tun ihr Möglichstes, um die besten Voraussetzungen zu schaffen. Aber es ist auch klar, dass die Schulen für ein gutes Integrationsangebot jetzt dringend Unterstützung brauchen: mehr Personal, zusätzliche Räume, mehr Sachmittel. Allein im Personalbereich, so das Institut der deutschen Wirtschaft (IW), seien dafür mindestens 13.500 weitere Stellen notwendig.