Differenzieren & Fördern / 15.01.2024

Lerntherapeutin Romaine Braun-Baustert über Rechenschwierigkeiten und frühe Hilfen

„Für die Kinder ist es wichtig, kleine Ziele zu haben, die sie auch erreichen können“

Viele Kinder stellen sich schon vor der Grundschule gern mathematischen Herausforderungen: sie zählen, sortieren oder versuchen, Muster zu erkennen. Andere Kinder tun sich damit sehr schwer. Diese Rechenschwierigkeiten können für sie in der Schule und im Leben zu großen Problemen führen. Wie können Lehrkräfte diesen Kindern helfen, wie können sie ihre Probleme erkennen und die passende Förderung zukommen lassen? Das haben wir die Lerntherapeutin und Autorin Romaine Braun-Baustert gefragt.

Junge verzweifelt über Mathe Hausaufgaben
Bild: Shutterstock.com/Markus Mainka

Frau Braun-Baustert, was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff Rechenschwäche?

Romaine Braun-Baustert: Ich möchte zunächst einen Unterschied zwischen Rechenschwierigkeiten und Rechenschwäche machen. In meinen Büchern schreibe ich in der Regel von Schwierigkeiten, da bei der Rechenschwäche meist bereits eine Diagnose gestellt wurde. Aber auch von Schwierigkeiten sollte man erst sprechen, wenn die Probleme im Rechnen länger als sechs Monate andauern. Also nicht schon dann, wenn eine bestimmte Rechenart nicht direkt verstanden wurde. Oft betragen die Rückstände bei den Kindern tatsächlich ein Jahr oder mehr und betreffen Dinge aus der ersten Klasse, die dann aber in der vierten oder sechsten Klasse noch immer nicht richtig verstanden wurden. Umso wichtiger ist es, dass die Lehrkräfte die Schwierigkeiten möglichst früh erkennen.


Und wie genau und wo müssen die Lehrkräfte hinschauen?

Romaine Braun-Baustert: Meistens merkt man ja, ob ein Kind viele Fehler macht und kann sich dann die Fehler genau anschauen. Wenn man bei den Stellenwerten von Zahlen etwa sieht, dass ein Kind immer die gleichen Schwierigkeiten hat, wenn es also ein systematisches Problem zu sein scheint, dann sollte sich die Lehrkraft Zeit nehmen und einen kleinen Test machen, um genau zu sehen, wo die Fehler beginnen. Beispiele dazu habe ich in meinem Buch aufgelistet. Denn um dem Kind wirklich helfen zu können, ist es wichtig, dass man an dem Punkt ansetzt, an dem die Schwierigkeiten begonnen haben. Man kann auch überprüfen, ob das Kind eine Zahl zerlegen kann oder ob es die Zehnerüberschreitung beherrscht.

„In der ersten Klasse sind Rechenschwierigkeiten noch am leichtesten zu erkennen“

Das funktioniert schon in der ersten Klasse?

Romaine Braun-Baustert: In der ersten Klasse sind Rechenschwierigkeiten noch am leichtesten zu erkennen, weil das Spektrum von dem, was die Kinder wissen müssen, relativ übersichtlich ist. Während beispielsweise die Mitschülerinnen und Mitschüler schon auf einen Blick die Anzahl fünf erkennen können, wird ein Kind mit Rechenschwierigkeiten immer von der Zahl eins anfangen zu zählen, selbst wenn es beispielsweise nur drei Punkte erkennen soll. So gibt es ganz viele kleine Hinweise schon in der ersten Klasse, auch weil man den direkten Vergleich zu den anderen Kindern hat.


Haben denn Kinder mit Rechenschwierigkeiten alle die gleichen Probleme oder gibt es da große Unterschiede?

Romaine Braun-Baustert: Ja, es gibt relativ viele Unterschiede, weil die Ursachen und das Ausmaß sehr unterschiedlich sein können. Das Triple-Code-Modell des französischen Neurowissenschaftlers Stanislas Dehaene besagt – ganz vereinfacht –, dass Mathematik an drei verschiedenen Orten im Gehirn stattfindet. Jeder Ort steht für einen teilmathematischen Bereich, nämlich 1. für Symbole und mehrstellige Ziffern, 2. für die verbale Zahlenform und 3. für die Größenrepräsentation. Diese drei Bereiche können alle betroffen sein, oder aber auch nur einer oder zwei. Daneben spielen auch das Gedächtnis und die Konzentration sowie die räumliche Vorstellungsfähigkeit immer eine Rolle. Erst wenn man herausgefunden hat, in welchem dieser Bereiche das Kind Probleme hat, kann man an diesen Problemen arbeiten. Dann kann man auch die Bereiche, die das Kind gut beherrscht, unterstützen und nutzen.

Wann ist denn eine Therapie ratsam?

Romaine Braun-Baustert: Es ist immer gut, so früh wie möglich mit einer Therapie zu beginnen. Leider sprechen aber häufig lange Wartezeiten oder mangelnde finanzielle Ressourcen eine Rolle.


Was konkret können die Lehrkräfte selbst tun?

Romaine Braun-Baustert: Wenn ich neue Schüler bekomme, dann versuche ich herauszufinden, welche Schwierigkeiten bestehen und wie weit muss ich zurückgehen, um wirklich dort anzufangen, wo das Kind etwas nicht mehr verstanden hat. Bei älteren Kindern sind zum Beispiel Probleme bei der Hunderterüberschreitung ganz typisch. Oft haben sie in der ersten Klasse die Zehnerüberschreitung nicht verstanden. Sie müssen aber nur wissen, dass es immer der gleiche strategische Schritt ist, egal ob es um die 10er-,100er- oder 1000er-Überschreitung geht. Deswegen fange ich dann immer noch einmal bei den kleinen Zahlen an, etwa 8 plus 5. Dabei wird die Zehnerüberschreitung schrittweise erfasst und so oft wiederholt, bis die Schülerinnen und Schüler die Schritte verinnerlicht haben. Dann rechnen wir 18 plus 5, später 128 plus 5 und so weiter, bis die Kinder merken, dass es immer die gleiche Strategie ist, dass sich nur der 10er ändert. Dann kann man relativ schnell zu den größeren Zahlen übergehen.

Auftaktübungen als Ritual im Mathematikunterricht

Als kontinuierliches Ritual festigen die täglich praktizierten Auftaktübungen mathematische Grundkenntnisse. Dies schafft eine solide Grundlage für den aktuell und künftig zu lernenden Stoff.

Der entscheidende Prozess: das Umgekehrt-Denken.

Gibt es auch typische Fehler beim Multiplizieren oder Dividieren?

Romaine Braun-Baustert: Die Division funktioniert erst dann, wenn die Multiplikation wirklich gut sitzt. Und auch bevor das Dividieren klappt, muss das Subtrahieren verstanden sein. Das ist der entscheidende Prozess: das Umgekehrt-Denken. Wenn die Kinder in eine Richtung rechnen können – also multiplizieren – dann ist es trotzdem für sie sehr schwierig, in die andere Richtung zu rechnen, nämlich zu dividieren. Deswegen ist es wichtig, dass die Lehrkraft immer die einzelnen Denkschritte laut ausspricht und die Schülerinnen und Schüler dazu auffordert, dies auch zu tun, um so Strategien zu verinnerlichen. Dies gilt auch für andere Bereiche, wie etwa die Zehnerüber- oder -unterschreitung.
 

Die Kinder haben nicht gerade viele Erfolgserlebnisse. Wie kann ich als Lehrkraft diesen ständigen Misserfolgen entgegenwirken?

Romaine Braun-Baustert: Gerade in der Mathematik ist das besonders schwer. Denn auch Lehrer können nicht immer nachvollziehen, wo die Probleme liegen, weil sie selbst diese Schritte gar nicht brauchen, da sie diese Prozesse verinnerlicht haben. Deswegen muss man umdenken und überlegen, in welche Schritte muss ich diese Aufgabe einteilen? Und wie kann ich diese so leicht wie möglich darstellen? Wir können diesen Kindern mehr Zeit geben, damit sie zum Beispiel die Zwischenschritte aufschreiben können. Und dann diese Zwischenschritte auch bewerten: „Diesen Schritt hast du gut gemacht. Vielleicht hast du dich nur beim letzten Schritt verrechnet.“ Oder: „Du hast einen Schritt vergessen, aber der Weg war richtig.“ Dass man also mehr Varianten, mehr Bewertungen einbaut.

Genau verstehen, woher die Probleme kommen

Was nimmt der Lehrer, die Lehrerin aus Ihrem Buch mit?

Romaine Braun-Baustert: In meinem Buch geht es darum, genau zu verstehen, woher diese Probleme kommen. Erst dann kann man erfolgreich mit den Kindern arbeiten. Ich möchte den Lehrkräften helfen, Kinder mit Rechenschwierigkeiten besser zu verstehen und für diese Kinder konkretes, passendes Fördermaterial zu finden. Sie sollten sich auch klar machen, dass bereits kleine Schritte Erfolg bedeuten und dass die Kinder nicht einen Rückstand von vier Jahren in drei Monaten aufholen können. Für die Kinder ist es sehr wichtig, kleine Ziele zu haben, die sie auch erreichen können.
 

Begleiten diese Rechenschwierigkeiten die Kinder ihr ganzes Leben lang?

Romaine Braun-Baustert: Wenn es sich um eine diagnostizierte Rechenschwäche handelt, wird es immer Stolpersteine geben. Sie brauchen vielleicht länger zum Rechnen, es bleiben Unsicherheiten. Aber es hängt auch davon ab, wie viele Strategien der Mensch entwickelt hat und wie gut sein Gedächtnis ist. Klar ist, das alles ist für Menschen mit Rechenschwäche, egal wie alt sie sind, sehr anstrengend. Sie brauchen viel mehr Konzentration, weil viele Rechenschritte nicht automatisch ablaufen. Das kostet Energie und ist viel ermüdender.

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Zur Person

Romaine Braun-Baustert ist seit 14 Jahren ausgebildete Lehrerin. Vor einigen Jahren hat sie ihr Masterstudium zur integrativen Lerntherapeutin abgeschlossen und arbeitet seitdem in Fördergruppen an luxemburgischen Schulen mit Kindern mit Rechenschwäche/ Rechenschwierigkeiten, LRS oder allgemeinen Lernproblemen. Zudem gibt sie als Dozentin Kurse in der Lehrerfortbildung und in der Universität in Luxemburg.

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