Interview: Erfolgsfaktoren für digitales Lernen
„Ich bin Kolleg/-innen sehr dankbar, bei denen anfangs nicht alles gelang, die aber am Ball bleiben und es immer wieder versuchen.“
Ende Februar trafen sich über 2000 Lehrkräfte digital beim FOBI Festival Nord und tauschten sich im Rahmen von Diskussionen und Fortbildungen aus. Einer der Referenten war Maik Riecken. Der Berater des Niedersächsischen Landesinstituts für schulische Qualitätsentwicklung berät Schulen auf ihrem Weg in die Digitalisierung. Im Interview spricht er über Rezepte für gelingenden Fernunterricht, Erfolgsfaktoren für digitales Lernen und den Wert von Austausch und Weiterbildung.
Sie sind Lehrer und medienpädagogischer Berater des Niedersächsischen Landesinstituts für schulische Qualitätsentwicklung (NLQ).
Was verbirgt sich hinter diesem Job und dieser Institution genau?
Im Prinzip geht es im Kern um die Erlangung der Weltherrschaft mit friedlichen Mitteln. Medienpädagogische Berater/-innen unterstützen u.a. Schulträger und Schulen bei der Umsetzung des Digitalpakts. Schulen, die sich auf den Weg machen möchten, Unterricht für die Erfordernisse der digitalisierten Welt zu anzupassen, können uns kostenlos und produktneutral mit in diesbezügliche Prozesse einbinden. Dabei spielt auch immer die Berücksichtigung von Datenschutz eine Rolle, einmal als Unterrichtsgegenstand im Sinne der Erlangung von Mündigkeit in einer digitalen Welt, einmal als formales Korsett, mit dem man unter den momentanen gesetzlichen Rahmenbedingungen umgehen muss — und es geht mit etwas Kreativität.
Oft ähnelt unser Auftrag dem eines/-r Übersetzer/-in: Schulen formulieren pädagogische Ziele, die dann in eine dazu passende technische Ausstattung übersetzt werden muss. IT-Firmen und kommunale Mitarbeiter sind mit schulischen Erfordernissen meist genauso wenig vertraut, wie Schulen mit Nöten des Trägers im Bereich des Ausschreibungs- und Haushaltsrechts.
Neben diesen “großen” Rädern sitzen viele von uns in kommunalen Medienzentren und organisieren dort Fortbildungen oder die Vernetzung unterschiedlicher Bildungsträger, haben per E-Mail und Telefon ein offenes Ohr für Fragen zu Detailproblemen, entwickeln didaktische Konzepte zum Medieneinsatz in Schulen. Das hört sich nach sehr viel an, jedoch kann jeder von uns auf die Expertise aller Kolleg/-innen im Land zurückgreifen, wenn es einmal nicht weitergeht.
Wir nehmen diese Aufgaben im Rahmen von Abordnungsstunden wahr. Die meisten von uns unterrichten weiterhin mit mindestens der Hälfte ihrer Stunden an Schulen. Das ist bei mir anders, da ich noch weitere landesweite Aufgaben wahrnehme, z. B. die Qualifizierung von medienpädagogischen Berater/-innen im Bereich Medienbildungskonzeptentwicklung oder Medienentwicklungsplanung. Organisiert sind wir über das niedersächsische Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung (NLQ). Das NLQ nimmt außer im Bereich der Medienbildung vielfältige Aufgaben im Land wahr mit dem Schwerpunkt der Weiterbildung von Lehrkräften.
Sie waren beim FOBI Festival Nord in der Diskussionsrunde „Digitale Schule sehr gern – aber wer fragt mich?“ mit dabei. Zusammen mit einigen anderen Lehrerinnen und Lehrern.
Welche Erkenntnisse nehmen Sie aus den Gesprächen mit?
Zuhören in unterschiedlichen Schulformen ist Kerngeschäft der Arbeit eines Beraters / einer Beraterin. Der Austausch zeigt immer, dass man nie von den Gegebenheiten vor Ort auf z. B. das ganze Land schließen darf. Träger und Schulen sind immer noch höchst unterschiedlich aufgestellt. Bestimmte Verhältnisse, die man lokal vielleicht schon längst überwunden hat, treten anderswo wieder auf. Es ist wichtig, Schulen und Kolleg/-innen in jeder Entwicklungsphase ernst zu nehmen und anzuerkennen, dass manche Schritte selbst gegangen werden müssen und dass das einen Wert hat – egal wo man selbst zu stehen glaubt. Mich hat im Kontrast zur Abschlussrunde sehr gefreut, dass es weniger darum ging, sich mit Statements zu profilieren – in der Politik gibt es da leider gewisse Zwänge – sondern mehr darum, einander zuzuhören und sich aufeinander zu beziehen.
Wie wichtig sind Lehrerfortbildungen und Austauschformate aktuell? Was trägt speziell bei digitalen Formaten zum Gelingen bei?
Das hat für mich nichts mit aktuell zu tun. Fortbildung ist und war schon immer sehr wichtig. Leider fehlen vielen Lehrkräften dafür schlicht die Ressourcen. Die Personaldecke ist dünn und jeder Ausfall muss von Kolleg/-innen vor Ort kompensiert werden. Dass digitale Formate jetzt einen starken Zulauf erfahren, halte und empfinde ich eher als einen Ausdruck von Not in einer besonderen Situation von Schule in der Pandemie. Darin liegen immense Chancen, aber auch die Gefahr, dass das “Digitale” von Kolleg/-innen emotional mit ebendieser Notsituation verbunden bleibt. Digitale Formate sind nachhaltig und erfolgreich, wenn sie methodisch das umsetzen, was sie von gutem Unterricht inhaltlich verlangen. Große Vortragsformate bieten nur als Einstieg eine Chance, Menschen breiter zu erreichen – das ist deren Magie. Folgen müssen meiner Ansicht nach aber kleinere Workshopangebote, die einen Schutzraum bieten, um miteinander in Dialog zu kommen. Nur so kann ich in meinen Fortbildungen auf die Bedürfnisse der jeweiligen Fortbildungsgruppe eingehen und diese in Aktivität bringen. Politik und Presse haben mit diesen Ansätzen oft ein Problem, weil die Zahlen dort naturgemäß geringer ausfallen.
Wie sind Sie bisher durch die Corona-Pandemie gekommen? Was ist Ihr Eindruck, wie es Schulen, Schülerinnen und Schülern und den Lehrkräften ergeht?
Ich und meine Familie waren selbst erkrankt und insgesamt sechs Wochen in behördlicher Quarantäne – keiner von uns hat Folgeschäden davongetragen. Mein Landkreis ist immer noch “Hochinzidenzkommune”. Durch meine Vollabordnung bleibe ich von Wechsel- und Distanzunterricht verschont und kann mir kein Urteil über die tatsächliche Belastung von Kolleg/-innen erlauben. Ich sehe Schule durch die Augen meiner Kinder an der Homeschooling-Front und mich selbst ins Home-Office versetzt. Meine Wahrnehmung ist, dass gelingende unterrichtliche Prozesse weit weniger von den digitalen Fertigkeiten von Kolleg/-innen abhängen. Viel wichtiger scheint zu sein, wie es Kolleg/-innen gelingt, Unterricht von Schüler/-innen aus und nicht vom Erhalt ihrer gewohnten Unterrichtspraxis aus zu denken. Ich und meine Kinder sind Kolleg/-innen sehr dankbar, bei denen anfangs nicht alles gelang, die aber am Ball bleiben und es immer wieder versuchen. Und schließlich klappt es! Ihr Engagement verdient daher in meinen Augen besondere Anerkennung.
Stichwort „Digitales Lernen“ – was erhoffen Sie sich von der Politik?
Politik muss formale Rahmenbedingungen setzen, die Schulentwicklung ermöglicht, z. B. im Bereich Ausschreibungsrecht (Digitalpakt, da klemmt es) und beim Thema Datenschutz. Das große Problem für das politische Handeln sehe ich darin, dass die Probleme im Bereich Schule leider keine sind, gegen die sich allein Geld werfen ließe. Wo sind z. B. die Verwaltungsfachkräfte bei den Trägern mit Digitalkompetenzen? Woher kommen die Menschen, die Lehrkräftefortbildung in der Fläche voranbringen? Wer entwickelt zukunftsfähige Softwarelösungen für Schulverwaltungsnetze bzw. wer begleitet diese Landesvorhaben? Wo sind die Landtagsabgeordneten, die z. B. zumindest die Grundzüge von Förderrichtlinien zum Digitalpakt kennen und in den Dialog mit Schulen gehen? Wir hätten vor Jahren anfangen müssen, die entsprechenden Ausbildungsgänge und Qualifikationen zu etablieren.
Ich wünsche mir von Politik auch, dass sie aufhört, dem Mantra der großen Zahl hinterherzulaufen. Hinter einer großen Zahl steht qualitativ u. U. gar nichts. Projekte laufen aus und werden nicht weiterfinanziert – die Wissenschaft kann da viel größere Klagelieder singen. Dummerweise gibt es im Schulsystem zusätzlich noch ein paar klitzekleine weitere Probleme wie z. B. die Herstellung von wirklicher Chancengerechtigkeit statt juristisch abgesicherter Chancengleichheit. Politik kann das nicht allein. Zivilgesellschaft und Presse werden da auch mithelfen und teilweise umlernen müssen.
Und was erhoffen Sie sich von den Bildungsverlagen?
Bildungsverlage sind Marktteilnehmer. Sie müssen das produzieren, was der Markt von ihnen fordert. Das sind momentan tatsächlich Lösungen. Schulbücher, mit denen man Unterricht aus der Konserve machen kann, um angesichts überbordender Arbeitsbelastung als Lehrkraft in der einen oder anderen Lerngruppe schlicht zu überleben. Rezepte. Das wird nach meiner Beobachtung nachgefragt und das ist nicht verwerflich angesichts der Ressourcenarmut im Bildungssystem insgesamt.
Ich und so einige andere wünschen uns von Verlagen natürlich vor allem freie Materialien, die man digital individualisiert passgenau für eine Lerngruppe remixen und erweitern kann, ohne dabei mit Urheberrechtsfragen konfrontiert zu sein. Verlage haben eine hohe Kompetenz bei der inhaltlichen Überarbeitung von Unterrichtsmaterialien. Ich stelle mir eine offene Plattform vor, auf der Verlage mit ihren Kunden niederschwellig kommunizieren können – ihr Know-how in die Fläche geben und umgekehrt die eigene Materialien durch das Know-how der Fläche verbessern und ausbauen können. Ich möchte einzelne Artefakte zu passgenauen Materialien zusammenstellen können – aus Verlags-, Community- und OER-Materialien. Aber dazu wird sich das Geschäftsmodell der Verlage ändern müssen. Keine Bezahlung für Lehrwerke, sondern die Vergütung der Dienstleistung “Überarbeitung”, “Revision”, “Sicherstellung der Neutralität” von Lehrmaterialien. Vielleicht Abomodelle mit Zugriff auf “Premiuminhalte”. Ich glaube nicht, dass sich Verlage momentan leisten können, auf ihr Brot-und-Butter-Geschäft zu verzichten. Sie sollten aber digital neue Wege mit Beharrlichkeit und nicht ausschließlicher Projektbrillenfinanzierung gehen – damit macht man momentan noch keinen Gewinn – baut aber digitale Kompetenzen auf.