Vielfalt im Fokus: Sensitivity Reading für Lehrwerke
Interview mit Sina Rahel Holzmair
Bildungsinhalte sollten inklusiv, vielfältig und möglichst frei von Stereotypen sein. Damit das gelingt, gibt es das Sensitivity Reading – einen diskriminierungssensiblen Lektoratsprozess, der dazu anregt, die eigene Perspektive häufiger zu hinterfragen.
Diversity & Inclusion bei Cornelsen aktiv zu fördern, ist in der Unternehmenskultur verankert. Ein Teil des Engagements besteht darin, Standards für die Produktentwicklung zu definieren. Im Rahmen einer mehrmonatigen Workshop-Reihe bildeten sich Expert*innen aus den Redaktionen jetzt zum Thema Sensitivity Reading weiter. Sie lernten ein hilfreiches Werkzeug kennen, das für Orientierung sorgt.
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„Wir brauchen mehr Sicherheit darin, unsicher sein zu dürfen“
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Workshop-Leiterin Sina Rahel Holzmair ist rassismuskritische, queer-feministische Bildungsreferentin, Antidiskriminierungsberaterin, Sensitivity Readerin und Moderatorin. Ihre Themenschwerpunkte sind Empowerment und solidaritätsorientierte Konzeptualisierung und Sensibilisierung. Sie ist Mitgründerin des Bundesfachnetzes für Gesundheit und Rassismus und hat eine Vielzahl von Institutionen, Organisationen und Projekten koordinatorisch oder in Beratung auf ihrem Weg begleitet.
Im Interview erklärt sie, was Sensitivity Reading bewirken kann und welche Kraft darin liegt, den eigenen Blick zu weiten.
Worin liegt der Wert eines Sensitivity Readings?
Sina Rahel Holzmair: Bildungsliteratur prägt gerade junge Menschen und wie sie die Welt und sich selbst in ihr wahrnehmen. Durch dieses Angebot schaffen wir Sichtbarkeit, fördern Vielfalt und Repräsentation und schaffen ein kritisches Bewusstsein für gesellschaftliche Ungleichverhältnisse und Machtstrukturen. Das erhöht die Qualität und Zugänglichkeit von Texten und fördert auf lange Sicht eine Gesellschaft, die Vielfalt wertschätzt.
Wie drückt sich das konkret in Lehrmaterialien aus?
Sina Rahel Holzmair: Lange wurden beispielsweise in Medien und Literatur Schwarze Menschen kaum als Ärzt*innen, Manager*innen, Lehrer*innen usw. gezeigt. Diese Lücke in der Repräsentation sendet unterschwellig Botschaften, wer in bestimmten Rollen erwartet wird und wer eben nicht. Der Satz „You cannot be what you cannot see“ bringt es auf den Punkt. Es geht also nicht nur darum, Schaden zu vermeiden und nicht diskriminierend zu sein. Durch vielfältige, respektvolle, positive Darstellungen ermutigen wir dazu, groß zu denken und eigene Chancen zu sehen.
Im Kontext der Repräsentation von Menschen mit Behinderungen sollte aus meiner Sicht vor allem das Bewusstsein für Barrieren, Repräsentation und die verwendete, oft noch ableistische Sprache im Fokus stehen. Die Tatsache, dass viele Menschen durch Barrieren in unserem System behindert und nicht mitgedacht werden, ist für nicht behinderte oder nicht chronisch kranke Menschen nicht sichtbar. Sensitivity Reading kann diese Perspektiven sichtbar machen und ein Mitdenken fördern. Es reicht nicht mehr, das Thema mit einer Person, die einen Rollstuhl nutzt, abzubilden.
Ein zentraler Aspekt des Sensitivity Readings ist auch die Auswahl von Quellen. Mehrheitlich wird immer noch eine homogene, meist weiße, männliche Perspektive als Referenz genutzt. Wenn wir aber beispielsweise die Lebensrealität und die damit verbundenen Intersektionen einer Schwarzen Frau abbilden und mitdenken wollen, ist es sinnvoll, genau diese Stimme sprechen zu lassen: für mehr Authentizität und weniger Leerstellen.
Was sind häufige Vorbehalte oder Missverständnisse, wenn es darum geht, diskriminierungssensibel zu arbeiten?
Sina Rahel Holzmair: Nach wie vor verstehen manche Textschaffende das Sensitivity Reading als eine Art Zensur. Mir ist es wichtig zu vermitteln, dass diskriminierungskritisches Lektorat nichts verbietet, sondern als unterstützendes Tool dabei hilft, weniger diskriminierende Inhalte aus Unwissenheit zu produzieren.
In Texten müssen wir beispielsweise zwischen der Rede einer Figur, ihrem Charakter und dem Text als Ganzem unterscheiden. Natürlich dürfen Charaktere kontroverse oder problematische Dinge sagen oder reproduzieren – das kann sogar hilfreich sein, um für ein Thema zu sensibilisieren. Die Frage ist: Wie wird die Thematik aufgearbeitet? Es geht also nicht darum, etwas zu verbieten, sondern ein Gespür dafür zu entwickeln, wie wir etwas sagen und verpacken.
Diskriminierungskritische Arbeit ist ein stetiger Fortbildungsprozess, der ähnlich wie Sprache immer im Wandel begriffen ist. Auch ich lerne ständig etwas dazu. Zum Beispiel habe ich im gemeinsamen Cornelsen-Workshop zu Ableismus mit der Expert*in Stefanie Wiens erfahren, dass der Ausdruck „ein blinder Fleck“, der häufig im Rassismus-Diskurs vorkommt, ableistisch ist. Besser ist es, von einer „Leerstelle“ zu sprechen.
Wie können publizierende Teams an das Sensitivity Reading herangehen?
Sina Rahel Holzmair: Ich finde es sinnvoll, es im Entstehungsprozess eines Lehrwerks von Anfang an mitzudenken. Beginnend mit einer Selbstreflexion, in der wir eigene Vorannahmen prüfen und uns dann fragen: Bin ich offen für kritisches Feedback? Habe ich die Bereitschaft, Inhalte zu verändern, um sie diskriminierungsärmer und inklusiver zu gestalten? Bin ich bereit, mit anderen Perspektiven zusammenzuarbeiten, um mögliche Lücken zu schließen?
Zu sehr spezifischen Themen kann sich ein Team Beratung von „Own Voices“ holen, also von Menschen, die entsprechende Perspektiven aus ihrer jeweiligen Lebensrealität einbringen. Doch auch hier gilt es zu differenzieren und vielfältig zu denken, um nicht eine Person für eine komplette Gruppe sprechen zu lassen.
Ich erlebe leider oft, dass Menschen aus Angst, in Fettnäpfchen zu treten, bestimmte Themen lieber gar nicht erst aufmachen möchten. Wir brauchen mehr Sicherheit darin, unsicher sein zu dürfen. Wenn das unsere Grundhaltung ist, dann haben Texte viel mehr Chancen, für Denkanstöße zu sorgen. Bei den Lesenden, aber auch bei uns selbst.