Unterricht gestalten / 15.05.2020

Wie funktioniert "sprachsensibler Unterricht"?

Fragen an die Sozialwissenschaftlerin und 
Sprachexpertin Katharina Grannemann

Katharina Grannemann hat das Projekt "Sprachsensibles Unterrichten fördern – Angebote für den Vorbereitungsdienst" koordiniert und beantwortet in unserem Interview spannende Fragen zum Thema "sprachsensibler Unterricht".

Lehrerin im Klassenzimmer
Bild: Cornelsen/Sibylle Baier

Heute ist der Begriff "sprachsensibler Unterricht" in aller Munde. Warum hat das Thema solch eine große Bedeutung erlangt?

Katharina Grannemann: Inzwischen haben viele aktuelle Studien gezeigt, dass fachliches Lernen durch sprachliches Lernen unterstützt wird. Früher wurde die Auseinandersetzung mit Sprache und die (Weiter-)Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten als Aufgabe des Deutschunterrichts gesehen. Jetzt ist deutlich geworden, dass die sprachlichen Herausforderungen fachliches Lernen hemmen können.
 

Wird der Zusammenhang von fachlichem und sprachlichem Lernen also wichtiger? 

Katharina Grannemann: Ja, je mehr man Sprache zu einer Säule des Unterrichts macht, desto stärker wird auch das Erlernen von fachlichen Inhalten vereinfacht. Es haben bereits PISA-Studien darauf aufmerksam gemacht, dass die Sprachfähigkeit von Schülerinnen und Schülern nachgelassen hat. Durch den starken Zuzug seit 2015 und die Bildung von internationalen Förderklassen wurde das Thema auch in der Politik viel präsenter. 


Welche Ziele und Herausforderungen an die Lehrkraft verbinden sich damit? 

Katharina Grannemann: Ein typischer Satz ist oft: "Ich bin doch Geschichtslehrer und kein Deutschlehrer. Wie soll ich jetzt auch noch Deutsch unterrichten?" Häufig wird also neben der zeitlichen Doppelbelastung die fehlende Kompetenz angesprochen, sprachlichen Lernzuwachs zu fördern. Es herrscht also viel Unsicherheit. 
 

Welche "Gegenmittel" gäbe es? 

Katharina Grannemann: Indem man zeigt, wie sehr sprachsensibles Unterrichten das fachliche Lernen unterstützt und wie sehr dadurch auch kognitive Aktivierung und Modellierung bei den Schülerinnen und Schülern entsteht. Das ist ein Riesengewinn. Und es ist eine spätere Entlastung, wenn man von Anfang an sowohl den Inhalt als auch die Sprache mitdenkt. Das wirkt am Anfang wie eine Mehrbelastung, aber relativiert sich im Laufe der Zeit.
 

Inwiefern ist eine individuelle Förderung durch "sprachsensiblen Unterricht" möglich? 

Katharina Grannemann: Also grundsätzlich wird das Prinzip des Scaffolding genannt. Das Scaffolding steht für "Gerüst". Statt eine große Aufgabe zu einem Text zu stellen, unterteilt man diese in viele kleinschrittige Aufgaben. Die Schüler können sich dann wie an einem Gerüst von Teilaufgabe A bis D entlanghangeln. Und für die individuelle Förderung ist es sehr günstig, weil die Schülerinnen und Schülern sich selbstständig – natürlich mit Unterstützung der Lehrkraft – daran versuchen können. "Brauche ich die Schritte A–C?", "D kann ich doch auch ohne A bis C." Oder: "Ich arbeite mit allen Einzelschritten."


Das heißt, man kann das ziemlich gut an die individuellen Bedürfnisse anpassen … 

Katharina Grannemann: Ja, Schülerinnen und Schüler, die viele kleinschrittige Hilfen brauchen, nehmen sie an und die, die sie nicht brauchen, können automatisch mehrere Schritte in einem gehen.
 

Machen wir es einmal an Beispielen konkret: Auf welche Weise kann z. B.eine Lehrerin oder ein Lehrer für Gesellschaftslehre an der Sekundar- oder Gesamtschule "sprachsensibel" unterrichten? 

Katharina Grannemann: Nehmen wir zum Beispiel Darstellungstexte und Textverständnis, 
das ist ja ein Schwerpunkt im Geschichtsunterricht. Schülerinnen und Schüler, die großes sprachliches Entwicklungspotenzial haben und Unterstützung dafür brauchen, benötigen viel mehr Aufgaben, um sich auf den Text vorzubereiten, bevor der eigentliche Text in den Unterricht kommt. Also wenn man in der 5. Klasse über Ägypten und über das Nildelta spricht, sollte man sich im Vorfeld schon vergewissern, was die Schülerinnen und Schüler 
über Ägypten und den Nil wissen, und Präkonzepte abrufen. 
 

Also wird die sprachliche Vorwissensarbeit wichtiger? 

Katharina Grannemann: Ja, so kann ich schon Wortfelder sammeln und ein sprachliches 
Grundgerüst legen. Ich weiß schon, welche Worte die Schüler kennen und welche für sie neu sind. Und ich kann dabei auch neue Worte erklären und einfließen lassen. Das 
Vorwissen wird somit nicht nur im Sinne der Fachinhalte abgerufen, sondern auch sprachlich abgebildet. Man kann z. B. schon in einem Tafelbild die Begriffe integrieren und 
feste Satzstrukturen damit verbinden. Wie spricht man darüber? Wie schreibt man darüber? Gibt es feste Wortgefüge? 
 

Haben Sie vielleicht ein Beispiel zu dem Schritt von der allgemeinen Sprache zur Fachsprache?

Katharina Grannemann: Ja, im Themenbereich Industrialisierung wird z. B. die Funktionsweise der Dampfmaschine besprochen. Wenn sie ein Bild von einer Dampfmaschine zeigen, dann beschreiben die Schülerinnen und Schüler zunächst mit eigenen Worten, was da passiert. Sie formulieren Sätze wie "Da geht’s rauf", "Da geht’s runter" und benötigen dazu immer das Bild. Alltagssprache bedeutet ja, dass es noch nicht richtig abstrakt ist und man immer einen direkten Bezug zum Inhalt hat, weil die Sprache noch nicht ausdifferenziert ist. Indem sie erst etwas in der Alltagssprache beschreiben lassen und im Nachhinein sprachliche Hilfen geben, kann der Inhalt dann in bildungssprachliche Formulierungen transportiert werden. 
 

Und wie sähen die Hilfen aus? 

Katharina Grannemann: Also, z. B. indem Schülerinnen und Schüler das Bild mit dem Fachbegriff „Kolben“ verbinden, dadurch neue Wörter lernen und dazu übergeleitet werden, zu formulieren, dass der Dampf durch die Dampfzuleitungen in den Kolben 
geht. Durch das Auf- und Abbewegen des Kolbens wird dann das Parallelogramm bewegt. 
 

Könnten Sie den Unterschied zwischen einer „traditionellen“ und einer "sprachsensiblen" Aufgabenstellung verdeutlichen? 

Katharina Grannemann: Ganz wichtig ist, gerade unter sprachfördernden Aspekten, der Wechsel der Darstellungsformen. Das heißt, dass noch stärker auf den Wechsel der Aufgabentypen Wert gelegt wird. Die Schülerinnen und Schüler sollten z. B. selbstständig die Information in andere Darstellungsformen übertragen, also aus einer Tabelle ausformulieren oder aus Informationen, die im Fließtext stehen, eine Mindmap entwickeln. Der Inhalt wird kognitiv weiterverarbeitet und besser verstanden, weil man etwa andere Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge abbildet. Es fördert die Sprache, weil man andere Formulierungen und Redemittel benötigt. Man lernt dadurch, auf verschiedene Arten über ein Thema zu sprechen. 
 

Sie sind sehr erfahren in Lehrerfortbildungen für den sprachsensiblen Fachunterricht in den Gesellschaftswissenschaften. Gibt es Punkte, die Sie den Teilnehmern gerne mitgeben? 

Katharina Grannemann: Was ich gerne mitgebe, wenn wir von Lesekompetenz sprechen, 
ist ein Hinweis zu einem bestimmten Aufgabentyp, zu dem Lehrkräfte immer noch neigen: "Lies den Text und unterstreiche unbekannte Wörter". Da würde ich mir ein Umdenken wünschen. 
 

Und welcher Hinweis wäre das? 

Katharina Grannemann: Es macht in vielerlei Hinsicht keinen Sinn. Einerseits ist es schon eine abstrakte Kognitionsleistung, zu erkennen, was ich in einem Text nicht verstehe. Es erscheint uns so simpel, aber es ist herausfordernd. Andererseits ist es absolut demotivierend, wenn man sich gleich outen soll, was man nicht versteht. Es macht aus sprachbildender Hinsicht viel mehr Sinn, von dem auszugehen, was man schon kennt, um daraus bestehende Strukturen zu entwickeln. Also auf die sogenannten "Verstehens-Inseln" zu gucken: Was verstehst du schon im Text und wie kannst du daraus die Sätze drumherum inhaltlich erschließen.

Wird der Zusammenhang von fachlichem und sprachlichem Lernen also wichtiger? 

Katharina Grannemann: Ja, je mehr man Sprache zu einer Säule des Unterrichts macht, desto stärker wird auch das Erlernen von fachlichen Inhalten vereinfacht. Es haben bereits PISA-Studien darauf aufmerksam gemacht, dass die Sprachfähigkeit von Schülerinnen und Schülern nachgelassen hat. Durch den starken Zuzug seit 2015 und die Bildung von internationalen Förderklassen wurde das Thema auch in der Politik viel präsenter. 


Welche Ziele und Herausforderungen an die Lehrkraft verbinden sich damit? 

Katharina Grannemann: Ein typischer Satz ist oft: "Ich bin doch Geschichtslehrer und kein Deutschlehrer. Wie soll ich jetzt auch noch Deutsch unterrichten?" Häufig wird also neben der zeitlichen Doppelbelastung die fehlende Kompetenz angesprochen, sprachlichen Lernzuwachs zu fördern. Es herrscht also viel Unsicherheit. 
 

Welche "Gegenmittel" gäbe es? 

Katharina Grannemann: Indem man zeigt, wie sehr sprachsensibles Unterrichten das fachliche Lernen unterstützt und wie sehr dadurch auch kognitive Aktivierung und Modellierung bei den Schülerinnen und Schülern entsteht. Das ist ein Riesengewinn. Und es ist eine spätere Entlastung, wenn man von Anfang an sowohl den Inhalt als auch die Sprache mitdenkt. Das wirkt am Anfang wie eine Mehrbelastung, aber relativiert sich im Laufe der Zeit.
 

Inwiefern ist eine individuelle Förderung durch "sprachsensiblen Unterricht" möglich? 

Katharina Grannemann: Also grundsätzlich wird das Prinzip des Scaffolding genannt. Das Scaffolding steht für "Gerüst". Statt eine große Aufgabe zu einem Text zu stellen, unterteilt man diese in viele kleinschrittige Aufgaben. Die Schüler können sich dann wie an einem Gerüst von Teilaufgabe A bis D entlanghangeln. Und für die individuelle Förderung ist es sehr günstig, weil die Schülerinnen und Schülern sich selbstständig – natürlich mit Unterstützung der Lehrkraft – daran versuchen können. "Brauche ich die Schritte A–C?", "D kann ich doch auch ohne A bis C." Oder: "Ich arbeite mit allen Einzelschritten."


Das heißt, man kann das ziemlich gut an die individuellen Bedürfnisse anpassen … 

Katharina Grannemann: Ja, Schülerinnen und Schüler, die viele kleinschrittige Hilfen brauchen, nehmen sie an und die, die sie nicht brauchen, können automatisch mehrere Schritte in einem gehen.
 

Machen wir es einmal an Beispielen konkret: Auf welche Weise kann z. B.eine Lehrerin oder ein Lehrer für Gesellschaftslehre an der Sekundar- oder Gesamtschule "sprachsensibel" unterrichten? 

Katharina Grannemann: Nehmen wir zum Beispiel Darstellungstexte und Textverständnis, 
das ist ja ein Schwerpunkt im Geschichtsunterricht. Schülerinnen und Schüler, die großes sprachliches Entwicklungspotenzial haben und Unterstützung dafür brauchen, benötigen viel mehr Aufgaben, um sich auf den Text vorzubereiten, bevor der eigentliche Text in den Unterricht kommt. Also wenn man in der 5. Klasse über Ägypten und über das Nildelta spricht, sollte man sich im Vorfeld schon vergewissern, was die Schülerinnen und Schüler 
über Ägypten und den Nil wissen, und Präkonzepte abrufen. 
 

Also wird die sprachliche Vorwissensarbeit wichtiger? 

Katharina Grannemann: Ja, so kann ich schon Wortfelder sammeln und ein sprachliches 
Grundgerüst legen. Ich weiß schon, welche Worte die Schüler kennen und welche für sie neu sind. Und ich kann dabei auch neue Worte erklären und einfließen lassen. Das 
Vorwissen wird somit nicht nur im Sinne der Fachinhalte abgerufen, sondern auch sprachlich abgebildet. Man kann z. B. schon in einem Tafelbild die Begriffe integrieren und 
feste Satzstrukturen damit verbinden. Wie spricht man darüber? Wie schreibt man darüber? Gibt es feste Wortgefüge? 

Haben Sie vielleicht ein Beispiel zu dem Schritt von der allgemeinen Sprache zur Fachsprache?

Katharina Grannemann: Ja, im Themenbereich Industrialisierung wird z. B. die Funktionsweise der Dampfmaschine besprochen. Wenn sie ein Bild von einer Dampfmaschine zeigen, dann beschreiben die Schülerinnen und Schüler zunächst mit eigenen Worten, was da passiert. Sie formulieren Sätze wie "Da geht’s rauf", "Da geht’s runter" und benötigen dazu immer das Bild. Alltagssprache bedeutet ja, dass es noch nicht richtig abstrakt ist und man immer einen direkten Bezug zum Inhalt hat, weil die Sprache noch nicht ausdifferenziert ist. Indem sie erst etwas in der Alltagssprache beschreiben lassen und im Nachhinein sprachliche Hilfen geben, kann der Inhalt dann in bildungssprachliche Formulierungen transportiert werden. 
 

Und wie sähen die Hilfen aus? 

Katharina Grannemann: Also, z. B. indem Schülerinnen und Schüler das Bild mit dem Fachbegriff „Kolben“ verbinden, dadurch neue Wörter lernen und dazu übergeleitet werden, zu formulieren, dass der Dampf durch die Dampfzuleitungen in den Kolben 
geht. Durch das Auf- und Abbewegen des Kolbens wird dann das Parallelogramm bewegt. 
 

Könnten Sie den Unterschied zwischen einer „traditionellen“ und einer "sprachsensiblen" Aufgabenstellung verdeutlichen? 

Katharina Grannemann: Ganz wichtig ist, gerade unter sprachfördernden Aspekten, der Wechsel der Darstellungsformen. Das heißt, dass noch stärker auf den Wechsel der Aufgabentypen Wert gelegt wird. Die Schülerinnen und Schüler sollten z. B. selbstständig die Information in andere Darstellungsformen übertragen, also aus einer Tabelle ausformulieren oder aus Informationen, die im Fließtext stehen, eine Mindmap entwickeln. Der Inhalt wird kognitiv weiterverarbeitet und besser verstanden, weil man etwa andere Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge abbildet. Es fördert die Sprache, weil man andere Formulierungen und Redemittel benötigt. Man lernt dadurch, auf verschiedene Arten über ein Thema zu sprechen. 

Prima ankommen

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Sie sind sehr erfahren in Lehrerfortbildungen für den sprachsensiblen Fachunterricht in den Gesellschaftswissenschaften. Gibt es Punkte, die Sie den Teilnehmern gerne mitgeben? 

Katharina Grannemann: Was ich gerne mitgebe, wenn wir von Lesekompetenz sprechen, 
ist ein Hinweis zu einem bestimmten Aufgabentyp, zu dem Lehrkräfte immer noch neigen: "Lies den Text und unterstreiche unbekannte Wörter". Da würde ich mir ein Umdenken wünschen. 
 

Und welcher Hinweis wäre das? 

Katharina Grannemann: Es macht in vielerlei Hinsicht keinen Sinn. Einerseits ist es schon eine abstrakte Kognitionsleistung, zu erkennen, was ich in einem Text nicht verstehe. Es erscheint uns so simpel, aber es ist herausfordernd. Andererseits ist es absolut demotivierend, wenn man sich gleich outen soll, was man nicht versteht. Es macht aus sprachbildender Hinsicht viel mehr Sinn, von dem auszugehen, was man schon kennt, um daraus bestehende Strukturen zu entwickeln. Also auf die sogenannten "Verstehens-Inseln" zu gucken: Was verstehst du schon im Text und wie kannst du daraus die Sätze drumherum inhaltlich erschließen.

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Zur Person

Katharina Grannemann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Fachdidaktik der Sozialwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Sie hat das Projekt „Sprachsensibles Unterrichten fördern – Angebote für den Vorbereitungsdienst“ 
koordiniert und ist Autorin vieler Fachartikel zum Thema. Als Beraterin bei der Neukonzeption von Menschen-Zeiten-Räume für Nordrhein-Westfalen ließ sie ihr Fachwissen mit einfließen.

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Schlagworte:

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