Willkommensklassen - Tipps & Erfahrungen
Wie geflüchtete Kinder in deutschen Schulen ankommen
Nur ein Schuljahr haben Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse Zeit, in unserem Schulsystem anzukommen. In sogenannten Willkommensklassen starten sie oft gemeinsam, dort treffen mitunter unbegleitete geflüchtete Kinder auf Klassenkameradinnen und Klassenkameraden aus Diplomatenfamilien. Lehrer/-innen, die eine gute Mischung aus Disziplin, Improvisationstalent und Herzenswärme mitbringen, haben die besten Chancen, ihre Schüler/-innen in diesem intensiven Jahr zum Erfolg zu führen.
Die Rahmenbedingungen
Dank der UN-Kinderrechtskonvention haben geflüchtete Kinder das Recht auf uneingeschränkten Zugang zum deutschen Bildungswesen. Wie die Bundesländer die Beschulung regeln, können sie weitgehend selbst entscheiden. Auch die Schulpflicht ist in den Ländern unterschiedlich geregelt.
Oft werden besondere Lerngruppen für Sprachanfänger/-innen eingerichtet, die etwa "Willkommensklassen" oder "Migrationsklassen" heißen. In Nordrhein-Westfalen steht zum Beispiel für eine Sprachklasse von circa 15 bis 18 Kindern und Jugendlichen in der Regel eine halbe Lehrerstelle zur Verfügung.
Verlässliche Zahlen, wie viele Schüler/-innen bundesweit in Willkommensklassen lernen, gibt es nicht. Zudem ist die Fluktuation auch während des Schuljahres hoch, wenn Kinder neu in Deutschland ankommen oder abgeschoben werden.
Immer mehr Lerngruppen für Sprachanfänger/-innen
"Das hier ist Schloss." Schulleiterin Kirsten Schmollack ist baff, als Bojan aus Serbien seinen Eltern seine neue Schule präsentiert. Aber zieht man einen Vergleich mit der Erstaufnahmestelle für Geflüchtete in Eisenhüttenstadt, sei seine Wortwahl eigentlich doch gar keine so große Überraschung, stellt die Pädagogin fest. Kirsten Schmollack leitet die Leonardo-da-Vinci-Gesamtschule in Potsdam. Seit vorigem Jahr werden dort Kinder aus Tschetschenien, Syrien, Russland, Indien und anderen Ländern in einer Willkommensklasse unterrichtet.
Kinder und Jugendliche, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen, haben bundesweit das Recht auf eine besondere schulische Eingangsphase, in der sie vor allem die Sprache lernen, bevor sie in eine reguläre Klasse wechseln. Lerngruppen für Sprachanfänger/-innen gibt es schon länger in Deutschland, doch vor allem in den letzten Jahren sind es angesichts steigender Flüchtlingszahlen deutlich mehr geworden.
Für diese Klassen sind Lehrer/-innen gefragt, die im Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache oder Fremdsprache qualifiziert sind. Doch das allein reicht nicht. "Neben dem Sprachunterricht geht es auch darum, eine vertrauensvolle Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern aufzubauen", sagt Schulleiterin Schmollack.
Dafür gibt es vielfältige Möglichkeiten. An der Potsdamer Schule zum Beispiel gehören Ausflüge fest in den Unterrichtsalltag: ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt, im Biosphären-Park oder einfach eine gemeinsame Busfahrt. "Wir vermitteln auch ganz lebenspraktisches Wissen", sagt Lehrerin Judith Sauerbaum. An der Berliner Tesla-Schule sind Künstler/-innen gern gesehene Gäste. Sie kommen für Projektwochen und arbeiten gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern an einem Thema. "Zu mir oder zu dir" heißt das aktuelle Projekt, in dem die Schüler/-innen mit verschiedenen Materialien eine Traumwohnung bauen. "Sie können plötzlich über ihr Bad oder Wohnzimmer reden, obwohl das im Deutschunterricht noch gar nicht an der Reihe war", staunt Lehrerin Hannelore Riegel.
Traumatisierungen und schwierige Lebensumstände
Viele Schüler/-innen sind in schwierigen Lebensumständen. Manche sind durch Krieg und Fluchterfahrungen traumatisiert, ob sie in Deutschland bleiben können, ist ungewiss, und in Flüchtlingsunterkünften fehlt ihnen die Ruhe zum konzentrierten Lernen. Lothar Knauf, ebenfalls Lehrer an der Berliner Tesla-Schule, erklärt an einem Beispiel, was das bedeutet: Vergisst etwa sein afghanischer Schüler die Einnahme seiner Medikamente, die er seit seiner psychisch belastenden Flucht braucht, um sich fokussieren zu können, ist ein normales Unterrichten an diesem Tag unmöglich und der Schüler muss besonders betreut werden.
Auch ein differenzierender Unterricht – der angesichts der Alters- und Bildungsunterschiede in einer Lerngruppe sinnvoll erscheint – ist in der Praxis schwierig. Zum einen sind nicht alle Schüler/-innen aus ihren Heimatländern an selbstständiges Lernen und die Zusammenarbeit in kleinen Gruppen gewöhnt. Außerdem brauche es den strukturierten, disziplinierten Unterricht für alle, um in der kurzen Zeit überhaupt ausreichend Deutsch zu lernen, sodass die Schüler/-innen nach einem Jahr die Chance haben, den Anschluss an die Gleichaltrigen zu schaffen und damit auch den Schulabschluss zu packen. Davon ist Hannelore Riegel aufgrund ihrer langjährigen Unterrichtserfahrung in Willkommensklassen überzeugt.
Die Zeit für den puren Sprachunterricht schätzen viele Lehrer/-innen als zu kurz ein. "Ein Jahr reicht selten, um die Schüler/-innen auf das Sprachniveau zu bringen, das sie brauchen, um in einer regulären Klasse ihres Alters gut mitzukommen", sagen die Berliner Lehrer Riegel und Knauf. Zwar gibt es die oft genutzte Möglichkeit, die Schüler/-innen schon während ihrer Zeit in der Willkommensklasse in einzelnen Fachstunden, etwa Mathematik, Geschichte oder Erdkunde, sukzessive in eine reguläre Klasse einzugliedern, doch auch das ist kein Erfolgsrezept. Bis zur siebten oder achten Klasse gilt der Übergang als gut machbar, in der neunten Klasse wird es schon sehr hart, denn dann steht die Berufsbildungsreife (BBR) vor der Tür.
Balanceakt zwischen Empathie und Distanz
Eine weitere Herausforderung für die Lehrer/-innen: die Balance zu wahren zwischen Empathie und professioneller Distanz. Die Lebenssituation von geflüchteten Kindern stellt besondere Anforderungen an sie. Das reicht von einer Hilfestellung via WhatsApp in Liebesdingen – angesichts der kulturellen Unterschiede ein sensibles Thema für die Jugendlichen – bis zum Besuch auf einer psychiatrischen Station, wo ein aggressiver Schüler auf Initiative der Betreiber seines Flüchtlingsheimes aufgenommen wurde. Immer wieder kommt es auch vor, dass Schülerinnen und Schülern die Abschiebung bevorsteht – dann müssen die Lehrer gemeinsam mit der Klasse Abschied nehmen.
Der 15-jährige Omid Karimi ist mit seinen Eltern und Geschwistern aus dem Iran nach Potsdam gekommen und findet sich gut zurecht. Er lernt seit knapp sieben Monaten in der Willkommensklasse der Da-Vinci-Gesamtschule und spricht bereits gut Deutsch. Er freut sich, dass er in der Klasse so schnell Fortschritte macht und neben Deutsch auch immer mehr Fachspezifisches in Mathematik, Geschichte, Kunst und anderen Fächern lernt. Das Fußballspielen mit seinen neuen Freundinnen und Freunden trägt dazu bei, dass er sich in Potsdam zu Hause fühlt.
Judith Sauerbaum, die Omid unterrichtet, hat eine Empfehlung für Kolleginnen und Kollegen parat: "unbefangen herangehen und erst mal schauen, was die Kinder anbieten, was sie mitbringen, woher sie kommen – und Interesse an den Schülerinnen und Schülern zeigen". Geben sie etwas von sich preis, könne man sie auch im Unterricht besser erreichen.
Fünf Empfehlungen für einen guten Umgang mit geflüchteten Kindern
1. Schnell oder speziell – die Balance finden
Eine gute Mischung zu finden aus individueller Förderung, Gruppenarbeit und frontalem Unterricht erfordert Fingerspitzengefühl. Um aber in nur einem Schuljahr die erforderlichen Deutschkenntnisse zu vermitteln, braucht es alle drei Komponenten.
2. Kreativ sein, rausgehen, Kunst machen
In den Gruppen ist die Spanne von Alter, Kenntnissen und Lebenswelten zum Teil sehr groß. Deshalb kommt es neben dem Sprach- und Fachunterricht auch darauf an, die Klassengemeinschaft zu stärken und lebenspraktisches Wissen zu vermitteln. Von Exkursionen bis hin zu Rallyes, Festen oder Kunstprojekten – die Kreativität der Lehrer/-innen ist gefragt.
3. Den Übergang zelebrieren
Ein Jahr ist wenig Zeit, um gut Deutsch zu lernen, sich in der neuen Stadt einzuleben und Freundschaften jenseits der Willkommensklasse zu schließen. Schön, wenn man den Übergang in eine reguläre Klasse – und, damit verbunden, vielleicht an eine andere Schule – mit einem großen Fest feiert und stolz ist auf das, was die Kinder und Jugendlichen in nur einem Jahr erreicht haben. Das stärkt das Selbstbewusstsein und macht nochmals die engen Bande deutlich, die sie mit anderen Willkommensschülern geknüpft haben.
4. Abschied nehmen
Manchmal bekommen Schüler/-innen abrupt die Mitteilung, dass sie abgeschoben werden. Ein trauriger Einschnitt, der umso härter ist, je geborgener sich Kinder schon in der Klassengemeinschaft fühlen. Damit umzugehen, ist schwierig. Mit einem herzlichen Abschied kann man versuchen, dem Kind etwas Geborgenheit mitzugeben.
5. Professionelle Distanz wahren – ein Netzwerk aufbauen
Die Lehrer/-innen in Willkommensklassen sind für Schüler/-innen und Eltern mehr als nur Schulpersonal: Sie genießen oft großes Vertrauen und bauen enge persönliche Bindungen auf. Wenn Eltern und Schüler/-innen mit besonderen Wünschen auf sie zukommen, etwa dem Vater beim beruflichen Einstieg zu helfen, einen Behördengang oder einen Arztbesuch zu begleiten oder gegen eine drohende Abschiebung zu kämpfen, dann kommt es auf eine professionelle Distanz an. Die Arbeit von Fachleuten – zum Beispiel Sozialarbeitern, Übersetzern und Juristen – bringt oft mehr als noch so gut gemeintes pädagogisches Engagement. Sich mit unterstützenden Institutionen vor Ort zu vernetzen und Aufgaben abzugeben, zeugt von Professionalität.
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