Konfliktmanagement / 29.06.2020

Gegen sexualisierte Gewalt in der Schule

"Konsequente Intervention und langfristige präventive Arbeit"

Nicht erst seit #MeToo sind Formen und Ausmaß sexualisierter Gewalt bekannt. Was bedeutet das für die Schulen? Wie gehen Lehrkräfte, Kollegien und Schulleitungen mit dieser Problematik um? Birgit Palzkill forscht seit Jahrzehnten zu Geschlechterfragen. Jetzt hat sie gemeinsam mit weiteren Autoren und Autorinnen ein Buch veröffentlicht, das aufzeigt, warum geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als Thema in der Schulentwicklung verankert werden muss. Wir wollten von ihr wissen, wie sich sexualisierte Gewalt in Schulen zeigt, welche Interventionsmöglichkeiten Lehrkräfte und Kollegien haben und welche nachhaltigen Handlungsstrategien Schulen entwickeln können.

Bild: Shutterstock.com/Voyagerix

Interview mit Birgit Palzkill

Frau Palzkill, Sie haben sich mit sexualisierter Gewalt im Sport und in der Schule auseinandergesetzt. Was beinhaltet dieser Begriff? Und was versteht man unter nicht körperlicher sexualisierter Gewalt?

Birgit Palzkill: In der Schule zeigt sich sexualisierte Gewalt am häufigsten in verbalen Abwertungen wie ,"Hure, Weichei, Schwuli, alte Lesbe" und sexuellen Kommentaren oder Witzen, die Schüler sich gegenseitig im Unterricht oder in den Pausen offen oder versteckt zurufen, sowie in entsprechenden Gesten. Diese Formen der sexualisierten Gewalt werden als nicht-körperlich bezeichnet. Allgemein wird von sexualisierter Gewalt gesprochen, wenn Menschen Ausgrenzung, Diskriminierung, verbale oder körperliche Gewalt allein aufgrund ihres Geschlechts erfahren. Sexualisierte Gewalt ist darauf gerichtet, sie in ihrer geschlechtlichen und sexuellen Integrität und Würde zu verletzen.

"Sexualisierte Gewalt ist ein Mittel der Machtausübung"

Ist die Schule ein besonders "guter" Ort für diese Art von Gewalt? 

Birgit Palzkill: In der 2018 von Sabine Masche und Ludwig Stecher veröffentlichten SPEAK-Studie zu den Erfahrungen Jugendlicher mit sexualisierter Gewalt gaben 41 Prozent der befragten Mädchen und 26 Prozent der befragten Jungen an, bereits nicht körperliche sexualisierte Gewalt erfahren zu haben. Mehr als die Hälfte der Vorkommnisse fand dabei in der Schule statt. Das ist meines Erachtens nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Schule der Ort ist, an dem Kinder und Jugendliche einen großen Teil ihrer Zeit verbringen.
 

Kann sich diese Gewalt gegen jede/jeden richten?

Birgit Palzkill: Ja. Sexualisierte Gewalt ist ein Mittel der Machtausübung. Sie hat die Funktion, andere abzuwerten und sich selbst zu erhöhen. Mädchen werden durch sexistische Gewalt darauf verwiesen, dass sie als Mädchen eine untergeordnete Position einzunehmen und sich "männlicher" Vorherrschaft und Überlegenheit zu unterwerfen haben. Unter Jungen dient sexualisierte Gewalt dazu, eine Hierarchie herzustellen. Wird ein Junge als "Weichei" oder "Schwuli" diffamiert, so wird Ihm damit ein niedriger Platz auf der Rangleiter zugewiesen. Sexualisierte Gewalt festigt auf diese Weise eine Geschlechterordnung, in der die Höherwertigkeit von "Männlichkeit" und die Abwertung von "Weiblichkeit" verankert ist.

Sind bestimmte Gruppen besonders betroffen?

Birgit Palzkill: Besonders verletzbar sind alle diejenigen, die diese hierarchische Geschlechterordnung und die darin herrschenden Geschlechterbilder verletzen, sich also zu weit von den Vorstellungen entfernen, die ihre Mitschülerinnen und Mitschüler von "richtigen Jungen" oder "richtigen Mädchen" haben. Hierzu gehören Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* oder Intergeschlechtliche, aber auch zum Beispiel Jungen, die als zu "weiblich" gelten oder Mädchen, die zu wenig "mädchenhaft" auftreten. Mädchen stehen generell in der Gefahr, durch sexualisierte Gewalt abgewertet zu werden.

"Sexualisierte Gewalt findet in allen Fächern statt"

Kommt sexualisierte Gewalt in bestimmten Fächern (z. B. im Sportunterricht) häufiger vor als in anderen?

Birgit Palzkill: Sexualisierte Gewalt findet in allen Fächern statt. Der Sportunterricht spielt insofern eine besondere Rolle, als der Körper hier im Mittelpunkt steht. Zielt eine Abwertung direkt auf die eigene Körperlichkeit, so kann das in besonderer Weise verletzen. Zudem können sexistische Übergriffe im Sportunterricht besser kaschiert werden. Körperliche Grenzüberschreitungen können zum Beispiel bei Sportarten mit Körperkontakt als Zufall abgetan werden. Verbale Übergriffe werden schon im Klassenraum oftmals so leise ausgesprochen, dass die Lehrkraft sie nicht hören kann. In einer Sporthalle oder auf einem großen Sportplatz bekommt eine Lehrkraft hiervon meist gar nichts mit. Erst recht gilt dies für die Umkleidesituationen. Im Sportunterricht bestehen somit bestimmte Risikofaktoren, die einer besonderen Beachtung bedürfen.

"Klima von Achtsamkeit und Respekt entwickeln"

Wie sollten Schulen mit Vorfällen von sexualisierter Gewalt umgehen, welche Empfehlungen zur Intervention geben Sie?

Birgit Palzkill: Das Wichtigste ist, dass Lehrkräfte sexualisierte Gewalt überhaupt wahrnehmen und deutlich Stellung dagegen beziehen. Sexualisierte Gewalt läuft oftmals im Verborgenen ab und Schülerinnen und Schüler beschweren sich in der Regel nur dann bei der Lehrperson darüber, wenn sie davon ausgehen können, dass ihre Beschwerde nicht bagatellisiert wird und dass die Lehrperson etwas zur Veränderung der Situation unternimmt. Die Lehrkraft sollte daher sexualisierte Gewalt deutlich als solche benennen und klar machen, welche Konsequenzen es hat, wenn beispielsweise sexistische und abwertende Begriffe benutzt werden. Geschieht dies schon beim ersten Anlass und wird die angekündigte Konsequenz auch in die Praxis umgesetzt, so setzt dies Normen und hat große Auswirkungen bezüglich eines respektvollen Umgangs miteinander. Damit dies gelingt braucht es unbedingt Absprachen im Kollegium: Wie gehen wir mit Übergriffen um? An wen können sich Schülerinnen und Schüler wenden, wenn sie sich diskriminiert fühlen oder Übergriffe erfahren haben? Je offener und selbstverständlicher es in einer Schule ist, über sexualisierte Gewalt zu sprechen, desto einfacher kann ihr eine Grenze gesetzt werden.

Und wie steht es um Prävention und nachhaltige Handlungsstrategien?

Birgit Palzkill: Letztendlich kommt es darauf an, in der Schule ein Klima von Achtsamkeit und Respekt zu entwickeln. Neben der konsequenten Intervention bei Vorkommnissen bedarf es hierzu einer langfristigen präventiven Arbeit, die sexualisierter Gewalt ihren Nährboden entzieht. Es gilt, die interventiven Maßnahmen in ein Gesamtkonzept inklusiver geschlechterbewusster Pädagogik einzubetten, die sich geschlechtlicher und sexueller Vielfalt und der Gleichberechtigung aller Geschlechter verpflichtet sieht. Wie dies konkret aussehen kann, haben wir in unserem gerade erschienenen Buch "Diversität im Klassenzimmer" (Palzkill/Pohl/Scheffel, 2020) ausführlich beschrieben. Es enthält neben den theoretischen Grundlagen und der Beschreibung konkreter Handlungsschritte zahlreiche erprobte Materialien, Anregungen und Beispiele aus der schulischen Praxis.

Politisch deutlichere Signale setzen

Und welche Aufgaben fallen der Lehrerbildung, der Schulaufsicht, der Politik zu?

Birgit Palzkill: Sexualisierte Gewalt wird in unserer Gesellschaft zu oft nicht als solche wahrgenommen, negiert, bagatellisiert oder für normal erklärt. Diese als sogenannte Neutralisierungsstrategien bekannten Verhaltensweisen sind weit verbreitet und können dazu beitragen, dass sich auch Lehrkräfte an sexualisierte Gewalt gewöhnen und sogar deutliche Übergriffe aus der Wahrnehmung ausblenden. Lehrkräfte brauchen, um nicht in diese Falle zu laufen, fundiertes Wissen über sexualisierte Gewalt, ihre Ursachen und die Möglichkeiten, gegen Gewalt zu handeln. Voraussetzung hierfür ist die Bereitschaft und der Wille von Schulverwaltung und Politik, sexualisierte Gewalt zu enttabuisieren und Handlungsprogramme aufzulegen. Leider werden diese Themen in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften bislang noch viel zu stiefmütterlich behandelt. Hier würde ich mir wünschen, dass politisch deutlichere Signale gesetzt würden.

Sie befassen sich seit Jahrzehnten mit diesem Thema. Welche Veränderungen konnten Sie in dieser Zeit feststellen?

Birgit Palzkill: In den 1990er Jahren war das Thema deutlich tabuisierter als heute. Es war kaum möglich, sexualisierte Gewalt in der Schule überhaupt zu benennen ohne Gefahr zu laufen, angegriffen oder lächerlich gemacht zu werden. Als 2010 die Skandale über sexuellen Missbrauch an Internatsschulen öffentlich wurden, geriet sexualisierte Gewalt in der Schule generell mehr ins Blickfeld. Verbale sexualisierte Gewalt, Übergriffe und Grenzüberschreitungen können heute leichter thematisiert werden – zumindest die, die sich zwischen den Schüler*innen abspielen. Die #MeToo- Bewegung hat zu einer weiteren Enttabuisierung beigetragen. Die Voraussetzungen, gegen sexualisierte Gewalt zu handeln, sind heute also um ein Vielfaches besser als noch vor 20 Jahren.

 

Zur Person

Die ehemalige Leistungssportlerin, Lehrerin, Fortbildnerin und Wissenschaftlerin Dr. Birgit Palzkill forscht seit Jahrzehnten zu Geschlechterfragen. Bekannt geworden ist sie 1998 durch ihre Studie "Gewalt gegen Mädchen und Frauen im Sport".

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