Unterrichten in der Corona-Krise
"Die Schüler sind dankbar, dass ich ihnen Aufgaben stelle"
Die Schulen sind bundesweit geschlossen. Doch unterrichtet wird trotzdem. Irgendwie. Das ist auch wichtig. Nicht nur, weil die Kinder etwas lernen müssen, sondern, weil Aufgaben Struktur in ihren derzeit schwierigen Alltag bringen, weil diese schulischen Herausforderungen sie auch ein wenig ablenken und sie bestenfalls kreativ werden lassen. Darüber, wie Lehrkräfte Unterricht jetzt gestalten können, haben wir mit den beiden Berufsschullehrern und Medienexperten Melanie und Stephan Müller gesprochen.
Interview mit Melanie und Stephan Müller
Herr Müller, wie gestalten Sie zurzeit den Unterricht für Ihre Schülerinnen und Schüler?
Stephan Müller: Über ganz unterschiedliche Wege. Wir hatten Moodle (Informationen über das Lernmanagement Moodle auf dem Bildungsserver Baden-Württemberg finden Sie hier) schon im Einsatz und können voraussetzen, dass die Schüler das beherrschen. Wir nutzen zum Beispiel auch die interaktiven Quiztools Kahoot und Socrative (Informationen über Socrative auf dem Bildungsserver Baden-Württemberg finden Sie hier). Wir sind relativ breit aufgestellt, unsere Schülerinnen und Schüler kennen solche Tools.
Und was ist mit den Schulen, die bislang eher digital abstinent war, wie können sie ihre Schüler jetzt beim Lernen unterstützen?
Stephan Müller: Was jetzt auf eine rechtlich sichere Basis gestellt worden ist: Man kann die E-Mail-Adresse der Schüler einfordern und über E-Mail korrespondieren. Das nutze ich jetzt auch für Arbeitsaufträge. Das ist also momentan die Basis und eine Chance, die alle Lehrer haben: E-Mail-Kommunikation. Darüber hinaus wird’s schwieriger, gerade in (Grund-)Schulen, in denen bislang wenig andere Erfahrungen, zum Beispiel mit Lernplattformen oder Tools, gemacht wurden. Aber es gibt bestimmt viele mutige Lehrerinnen und Lehrer, die für sich Lösungen finden
So wie ich es gehört habe, weitet der WDR sein Kinderprogramm aus - und bietet zusätzliche Lerninhalte im Netz. Schulen können auf ihren Homepages auf diese Angebote verlinken, also etwa auf Arbeitsblätter bei Planet Schule. Konkrete Schulen, die dies machen, kenne ich jedoch aktuell noch nicht.
Mir fehlt jetzt so ein bisschen das Stichwort WhatsApp.
Stephan Müller: Als Datenschutzbeauftragter habe ich mit WhatsApp so meine Probleme, weil bei WhatsApp keine Anonymität gewährleistet ist. In einem WhatsApp-Chat spreche ich immer alle Mitglieder an, beim Mailen kann ich die weiteren Adressaten mit Bcc verbergen. Ich selbst habe gar keinen WhatsApp-Kontakt zu meinen Schülern. Ich erreiche meine Klassensprecher per E-Mail. Die Klassensprecher wiederum erreichen ihre Klassenmitglieder dann im freiwillig selbstorganisierten Chat der Klasse sehr schnell über WhatsApp. Die wiederum geben die Informationen an ihre Mitschüler weiter. Es gibt andere Möglichkeiten, um mit den Schülern - ähnlich wie im Unterricht - in der Gruppe zu kommunizieren. Zum Beispiel, indem man Videokonferenzen bei Moodle organisiert Also auch hier zahlt sich jetzt aus, wenn Schulen oder Klassen bereits digital gut aufgestellt sind.
Erreichen Sie denn jetzt alle Ihre Schüler?
Stephan Müller: Ich kann momentan nicht davon ausgehen, dass alle meine Schüler die Arbeitsfähigkeit und -möglichkeit besitzen, die ich als Lehrer voraussetzen muss. Hier in Nordrhein-Westfalen ist die Schulpflicht auch ausgesetzt. Deswegen kann ich nur Angebote machen und sehen, wie diese angenommen werden. Es passiert nicht selten, dass mir ein Schüler sagt, ich kann die Worddatei, die Sie mir geschickt haben, nicht zuhause bearbeiten. Die Entwicklung geht in Richtung Tablet und Smartphone und die Schüler haben oftmals gar kein Office-Programm mehr. Dann habe ich sie bislang in unser Lernzentrum geschickt, wo sie diese Möglichkeiten haben. Auch Bibliotheken bieten einen Service mit digitalen Arbeitsplätzen. Aber das funktioniert momentan nicht. Man kann natürlich sagen: Jeder hat ein Smartphone. Aber ich habe keine Sicherheit, dass das so ist und weiß auch nicht, ob vielleicht familiär Restriktionen existieren. Ich darf und will auch nicht in die Wohnzimmer gucken. Wir machen Angebote, aber wenn ein Schüler mir nicht zurückschreibt, wird es wirklich schwierig, ihn zu erreichen.
Melanie Müller: Was ich jetzt auch erlebe, ist ein großes Interesse der Schüler. Ich habe Schüler, die mit mehreren Geschwistern zuhause sitzen - in beengten räumlichen Verhältnissen, ohne Balkon oder Garten. Und sie sind dankbar, dass ich ihnen Aufgaben stelle. Ich habe noch nie so schnell und so viele Rückmeldung bekommen. Gestern Morgen um zehn Uhr habe ich Hausaufgaben verteilt und um elf Uhr kamen schon die Antworten: „Alles fertig!“. Die Schüler sind außerdem sehr kreativ. Wenn sie also nicht die Möglichkeit haben, die Aufgaben an einem Rechner zu bearbeiten, dann tun sie das handschriftlich, fotografieren anschließend das Blatt mit dem Handy ab und schicken mir das Foto per E-Mail. Ich bin wirklich beeindruckt!
Sollten Lehrer jetzt die Aufgabenstellungen auch auf die gegenwärtige Situation beziehen, also zum Beispiel Corona und die soziale Isolation zum Thema machen?
Stephan Müller: Ich habe das bisher nicht gewagt, denn ich habe ja jetzt keine Möglichkeit, pädagogisch zu arbeiten. Stellen Sie sich vor, ich habe einen Schüler, dessen Vater oder dessen Großmutter mit Corona infiziert ist und ich stelle ihm Aufgaben zum Themenfeld Corona. Ich weiß nicht, wie es ihm jetzt geht, was wird das bei ihm auslösen? Das ist der Nachteil von digitaler Kommunikation. Wenn ich im Klassenzimmer bin, kann ich immer pädagogisch arbeiten, das kann ich vielleicht auch, wenn ich per Video mit den Schülern kommuniziere, aber auch das ist immer nur ein Ausschnitt.
Melanie Müller: Ich vergleiche das ein bisschen mit der Arbeit mit Flüchtigen. Ich bin seit 2015 auch in der Flüchtlingsbildung tätig. Da reden wir im Unterricht auch nicht über Flucht, weil wir nicht wissen, was wir damit auslösen könnten. Unsere Schülerinnen und Schüler bekommen durch die Medien jetzt permanent Informationen über Corona, sie werden damit fast überfüttert. Natürlich sollten die Schüler jetzt auch etwas von mir lernen, aber für mich ist es auch eine wichtige Aufgabe, sie ein bisschen abzulenken.
Die Empfehlungen von Melanie und Stephan Müller:
- Moodle: Informationen über das Lernmanagement Moodle auf dem Bildungsserver Baden-Württemberg
- Kahoot: Magazinbeitrag auf scook.de
- Socrative: Informationen über Socrative auf dem Bildungsserver Baden-Württemberg
- Oncoo: Dieser digitale Werkzeugkasten wurde in einem Projekt des Fachseminars Informatik am Studienseminar für das Lehramt an berufsbildenden Schulen in Osnabrück entwickelt.
Zur Person
Die beiden Berufsschullehrer Melanie und Stephan Müller arbeiten auch als Referenten im Bereich Neue Medien, schreiben Schulbücher und Ratgeber. Stephan Müller ist außerdem Datenschutzbeauftragter für Schulen der Stadt Dortmund. Aktuell bieten sie für die Cornelsen Akademie das Webinar „Kleine Lehrertasche, große Wirkung“ - Wie digitale Medien den Schulalltag erleichtern! an.