Detlef von Elsenau über Bildung für nachhaltige Entwicklung und ihre Auswirkung auf die Schule
„Wir haben die große Chance, eine zukunftsfähige Schule aufzubauen“
Im Jahr 2015 hat die UNESCO die Agenda 2030 verabschiedet. Die 193 Mitgliedsstaaten haben sich darin dazu verpflichtet, die 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) für eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ist nicht nur Bestandteil, sondern auch Wegbereiterin zur Erreichung dieser SDGs. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Agenda 2030 unterschrieben. Das heißt, Bildung für nachhaltige Entwicklung muss in den Lehr- und Bildungsplänen verankert werden und alle Schulen sind verpflichtet, diese Inhalte umzusetzen.
Was bedeutet eigentlich Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) für die Schulen ganz konkret?
Müssen sie lediglich veränderte Lehrpläne in den verschiedenen Fächern umsetzen oder steckt mehr dahinter? „BNE ist eine große Chance, Schule und Lernen grundsätzlich und nachhaltig zu verändern“, sagt Detlef von Elsenau. Gemeinsam mit Sonja Gerski und Kara Zumbrink hat er jetzt das Buch Bildung für nachhaltige Entwicklung – Ein Leitfaden für eine wirkungsorientierte Transformation von Schule und Unterricht herausgegeben. Wir haben ihn gefragt, wie diese Veränderungen ganz konkret aussehen können.
Was bedeutet BNE für die Schule?
Detlef von Elsenau: Am einfachsten ist es wohl, zu sagen, wir integrieren Bildung für nachhaltige Entwicklung – beziehungsweise diese 17 Ziele – in die verschiedenen Fächer. Damit vergibt man aber eine große Chance. Denn es gibt bei diesen Zielen ein Ziel, das ist das SDG 4, die hochwertige Bildung als Nachhaltigkeitsziel. Und dieses Ziel kann man auch als Methode zur Veränderung von Schule verstehen. Genau da setzen wir an.
Es geht also nicht nur darum, die Themen in den Unterricht zu bringen, sondern Schule insgesamt zu verändern?
Detlef von Elsenau: Ganz genau. Da sehen wir die große Chance über dieses Nachhaltigkeitsziel 4 eine zukunftsfähige Schule aufzubauen und weiterzuentwickeln. Schulleitungen sollten hier eine große Chance sehen, gerade um das, was im Moment nicht so gut läuft, verändern zu können.
Detlef von Elsenau
Wir müssen Lernformate finden, die sich von der Vorstellung verabschieden, dass alle zur gleichen Zeit und in der gleichen Geschwindigkeit das Gleiche lernen.
Das Lernen stärker auf die Selbstständigkeit und die Selbstverantwortung von Schülerinnen und Schülern ausrichten
Was läuft denn nicht so gut?
Detlef von Elsenau: Was nicht gut läuft, hat uns unter anderem die Corona-Krise gezeigt mit den Schulschließungen und dem Homeschooling. Denn die einzigen Bildungsgewinner aus dieser Phase sind die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler. Diejenigen, die nicht in der Lage sind oder nicht in die Lage versetzt worden sind, Lernprozesse für sich selbst zu organisieren, waren auf verlorenem Posten. Wir müssen also überlegen, wie wir das Lernen viel stärker auf die Selbstständigkeit und die Selbstverantwortung von Schülerinnen und Schülern ausrichten.
Wir müssen Lernformate finden, die sich von der Vorstellung verabschieden, dass alle zur gleichen Zeit und in der gleichen Geschwindigkeit das Gleiche lernen. Das bedeutet, die Rolle der Lehrkraft wird sich ändern müssen, ebenso das Selbstverständnis der Lehrkraft – weg von der Rolle als Instrukteur hin zu jemandem, den man um Rat fragen kann. Nicht jeder aus einer Lerngruppe braucht die gleiche Anleitung, um zum Ziel zu kommen. Wenn ich den Schülerinnen und Schülern die Gewissheit geben kann, dass da jemand ist – und das hat auch viel mit Vertrauen zu tun –, den sie ansprechen können, wenn sie nicht weiterkommen, ohne dass das gleich unter dem Leistungsgesichtspunkt abgebucht wird, dann kann ich allen gerecht werden. Ich kann selbstständig lernende Schülerinnen und Schüler viel stärker allein lassen und mich um diejenigen, die Hilfe brauchen, kümmern.
Unsere bisherigen Unterrichtsräume sind für solche Lernprozesse allerdings völlig ungeeignet. Es müssen neue Raumkonzepte her, und tatsächlich gibt es bereits Schulen mit solchen Konzepten. Weil wir aber nicht alles neu bauen können, müssen wir überlegen, was können wir mit den bestehenden Strukturen machen. Wie können wir sie verändern? Bereits heute wird beim Schulneubau mit der Anordnung von Klassen rund um Innenhöfe, also um Freiflächen, geplant, sodass die Schülerinnen und Schüler die Orte aufsuchen können, in denen sie arbeiten möchten. Das heißt, diejenigen, die schnell und selbstständig arbeiten, können sich dann in einen Bereich zurückziehen und diejenigen, die Hilfe brauchen, scharen sich um die Lehrkraft, die – wie gesagt – eine stark beratende Rolle hat.
Andere Prüfungsformate
Und welche Rolle spielt die Digitalisierung?
Detlef von Elsenau: Wenn für solche sehr offenen Unterrichtsformen das passende digitale Material angeboten wird, werden wir auch wirklich weiterkommen. Wenn die Lehrkräfte gelernt haben, die digitalen Werkzeuge ganz selbstverständlich zu nutzen, und sie zur Differenzierung aber auch zum selbstständigen Lernen einzusetzen, dann haben wir schon einen großen Schritt gemacht. Und schließlich müssen wir noch die Prüfungsformate unter die Lupe nehmen. Schließlich beinhaltet selbstverantwortetes Lernen auch Kooperation und Kollaboration. Doch was heißt das für Prüfungen, wenn wir diese Kompetenzen vermitteln wollen? Wie prüfen wir diese eigentlich ab?
Genau, wie machen Sie das?
Detlef von Elsenau: Es geht ja offensichtlich nicht mehr so, dass man die Schülerinnen und Schüler in eine Klausur setzt und sagt, jeder arbeitet ganz allein. Es muss andere Prüfungsformate geben und auch da gibt es bereits Ansätze, die sagen, dass man durchaus auch kollektiv eine Prüfungslösung erarbeiten kann und es durch ganz bestimmte Beobachtungsmechanismen möglich ist, dabei auch die Leistung Einzelner zu beurteilen.
„BNE bietet die Chance, wirklich mündige Schüler zu erziehen“
Eine grundsätzliche Frage noch: Inwiefern tragen all diese Veränderungen tatsächlich zu den Zielen von BNE bei?
Detlef von Elsenau: Wenn Schülerinnen und Schüler selbst Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen und ich ihnen auch die Möglichkeit gebe, dies zu tun, sie also partizipieren lasse an ihrem eigenen Entwicklungsprozess, dann bedeutet das Erziehung zur Mündigkeit. Lehrkräfte haben ganz häufig eine Haltungserziehung im Auge und freuen sich, wenn die Schülerinnen und Schüler eine Haltung zeigen, die demokratisch ist, die klimaorientiert ist, wenn sie sich dafür einsetzen, dass in der Mensa fair gehandelte Produkte angeboten werden. Und ich zählte auch dazu. Aber ich glaube – und die Wirklichkeit zeigt es ja im Moment -, dass die Gegenmanipulation in den sozialen Medien so stark ist, dass ich Schülerinnen und Schüler nicht fit mache, wenn ich lediglich auf Haltung ziele.
Ich glaube, dass BNE die Chance bietet, wirklich mündige Schüler zu erziehen. Manchmal heißt das natürlich auch, dass sie in ihrer Mündigkeit genau die Haltung nicht zeigen, die ich möchte. Damit muss ich dann leben. Aber ich mache sie nicht fit dadurch, dass ich versuche, Haltung zu erzeugen, sondern dass ich versuche, diese mündigkeitsorientierte Erziehung umzusetzen. Die wiederum hängt ganz eng zusammen mit dem selbstverantwortenden Lernen. Wir haben keine andere Chance als Bildung. Wir können zwar sagen: „Wählt nicht die AfD, sie ist demokratiefeindlich, sie ist menschenfeindlich.“ Das bringt nichts, denn die Schülerinnen und Schüler müssen das selbst erkennen, damit sie nicht in einer Gegenmanipulation umgedreht werden können. Und darin liegt die große Chance dieses Prozesses. Aber es wird ein langer Prozess. Ich werde auch das Ende nicht mehr erleben, aber ich hoffe, wenigstens zu erleben, dass wir keinen rechten Umsturz bekommen.
Es ist aber trotzdem auch wichtig, dass die Schule selbst Nachhaltigkeit lebt, etwa was Energie, Ernährung und Fairtrade angeht?
Detlef von Elsenau: Ich wollte das nicht kleinreden. Wir vertreten ja den Whole-School-Approach, das heißt also, dass wir sagen, BNE muss ebenfalls in den Schulen gelebt werden. Aber die Entscheidung dafür darf nicht nach dem Motto laufen: „Ich möchte, dass du diese Haltung hast“, sondern es muss eine Entscheidung von mündigen Schülerinnen und Schülern sein.
Und um all dies geht es auch in Ihrem Buch?
Detlef von Elsenau: Ja, es handelt sich nicht um einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion, sondern es ist ein Buch, das von Leuten verfasst wurde, die die pädagogische Front ganz genau kennen. Wir haben es bewusst ganz breit angelegt, damit deutlich wird, wie multiperspektivisch man an die ganze Sache herangehen muss. Wir haben zum Beispiel auch zum Veränderungsprozess ein Kapitel gemacht, also zum Prozessmanagement, an dem man sich orientieren kann. Und wir sind bis auf die Ebene der Raumstrukturen heruntergegangen. Sodass man ziemlich viel Mut schöpfen kann und auch einen guten Überblick hat über das, was möglich ist. Es sind nicht lediglich Best-Practice-Beispiele, sondern es ist der Versuch, das Thema sehr weit, multiperspektivisch und optimistisch anzugehen.