Frieden, Menschenwürde und das Gastrecht bei Immanuel Kant
Interview mit Barbara Brüning
Am 22. April 2024 wurde der 300. Geburtstag des Königsberger Philosophen Immanuel Kant gefeiert. Mit Barbara Brüning, einer der Autorinnen des Cornelsen-Themenheftes „Nachdenken lernen mit Kant“, haben wir über die Bedeutung gesprochen, die Immanuel Kant heute noch für junge Menschen und den Ethik- und Philosophieunterricht hat.
Welche Relevanz hat Kant heute? Gerade auch für junge Menschen?
Barbara Brüning: Immanuel Kant hat sich in seiner Philosophie beispielsweise mit Themen wie Freundschaft und Vertrauen oder Demokratie und Rechtsstaat beschäftigt, die auch für uns heute noch wichtig sind. Insbesondere seine Friedensethik, die er in der politischen Schrift „Zum ewigen Frieden“ entwickelt hat, ist angesichts der Kriege in der Ukraine und in Gaza sehr aktuell.
Was interessiert Fünft- und Sechstklässler an Kants Theorien, was Siebt- und Achtklässler, was Neunt- und Zehntklässler?
Barbara Brüning: Für Fünft- und Sechstklässler sind zum Beispiel Kants Vorstellungen über das Leben von Außerirdischen auf anderen Planeten aus der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ eine Anregung, eigene Gedanken dazu zu entwickeln. Kant greift dabei auf Erfahrungen zurück, die er als Schüler mit seinen Freunden im Observatorium auf dem Dach des Friedrichgymnasiums in Königsberg gemacht hat.
Mit Siebt- und Achtklässlern könnte Kants absolutes Lügenverbot diskutiert und geprüft werden: Sind Notlügen unter keinen Umständen erlaubt? Lässt sich das strikte Lügenverbot im Alltagsleben wirklich durchhalten?
Ab der 10. Klasse ist Kants Charakteristik der Aufklärung interessant, die von uns Menschen fordert, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen und nicht Autoritäten im Sinne von Medien und Politik für uns denken zu lassen.
Wir haben diese kantschen Ideen in unser Themenheft „Nachdenken lernen mit Kant“ aufgenommen und mit aktuellen Beispielen ihre Bedeutung für die heutige Zeit aufgezeigt
Hilft uns der Kategorische Imperativ in der Schule?
Barbara Brüning: Der Kategorische Imperativ ist nicht für alle moralischen Probleme unseres Alltags ein Allheilmittel. Er gibt aber für viele moralische Probleme, auch in der Schule, eine ethische Orientierung: Wenn zum Beispiel jemand Papier auf den Schulhof wirft, dann können sich die Schülerinnen und Schüler im Sinne Kants fragen, ob sie wollen, dass dies dann alle machen dürfen, d.h. soll die Verschmutzung des Schulhofes ein allgemeines Gesetz menschlichen Handelns sein und als Regel in die Schulordnung aufgenommen werden? Kant würde antworten, dass dies jeder vernünftige Mensch verneinen müsste.
Welche Texte eignen sich für den Schulunterricht?
Barbara Brüning: Wir haben in unserem Themenheft einen Originaltext über Außerirdische auf dem Jupiter für die Klassen 5/6 verwendet und für die Jahrgangsstufen 7/8 „Zwei Kräfte wirken im Universum“ aus der „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels“. Ab Klasse 10 gibt es mehrere Originaltexte, zum Beispiel über die Unmündigkeit des Menschen aus der „Metaphysik der Sitten“.
Ist Kant von seiner Sprache her für Schülerinnen und Schüler verständlich?
Barbara Brüning: Es gibt Texte von Kant, die Schülerinnen und Schüler im Original lesen können (siehe dazu Punkt 4). Für die Sekundarstufe I gilt aber, dass es die Möglichkeit gibt, Originaltexte zu vereinfachen, indem längere Sätze in kürzere umformuliert werden. Dann schreiben Autorinnen und Autoren „Nach Kant“. In unser Themenheft haben wir beispielsweise einen Text „Lügen und strafen“ für die Klassen 7/8 aufgenommen, in dem der Gedankengang Kants erhalten bleibt, die Sätze aber umformuliert und gekürzt wurden. Darüber hinaus arbeiten wir mit vielen Zitaten und Aphorismen von Kant, die von den Schülerinnen und Schülern gut verstanden werden. Bei größerem Interesse können dann die Texte, aus denen die Gedanken entnommen wurden, im Original nachgelesen werden.
Sind die vier Grundfragen der Philosophie von Immanuel Kant heute noch ein sinnvolles Ordnungsprinzip in einem zeitgenössischen Ethik- und Philosophieunterricht?
Barbara Brüning: Es gibt einige Bundesländer, wie zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern oder Schleswig-Holstein, die sich in ihren Rahmenplänen zum Ethik- und Philosophieunterricht an den vier Fragen der Philosophie von Immanuel Kant orientieren: Was kann ich wissen? (Erkenntnis- und Sprachphilosophie); Was soll ich tun? (Ethik); Was darf ich hoffen? (Politische Philosophie und Religion); Was ist der Mensch? (Anthropologie).
Kant hat in diesen vier Grundfragen sämtliche Richtungen der Philosophie systematisiert und „auf den Punkt gebracht“; insofern kann sich auch ein zeitgenössischer Ethik- und Philosophieunterricht daran orientieren. Hinzu kommen im 21. Jahrhundert Probleme aus der Angewandten Ethik zu Fragen der Natur, Technik und Medizin, die zu Kants Zeiten noch nicht relevant waren. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch Kants methodisches Prinzip des Selber-Denkens „Werdet nicht der Menschen Knechte“: Schülerinnen und Schüler sollen lernen, zu philosophischen Fragen einen eigenen Standpunkt zu entwickeln und nicht andere wie Lehrer/-innen, soziale Medien oder KI für sich denken lassen.
Hilft uns Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" die Probleme auf der Welt zu lösen?
Barbara Brüning: Kant hat seine Schrift 1795 nach dem Sonderfrieden zwischen Preußen und dem revolutionären Frankreich in Basel geschrieben. Und er hat sich gefragt, ob dieser Frieden bzw. Waffenstillstand dauerhaft halten könnte. Zunächst aber forderte er als allgemeines Prinzip, dass, wo immer in Europa ein Krieg auszubrechen droht, er so schnell es geht durch Verhandlungen gelöst werden sollte. Dazu gibt es zwei Phasen: zunächst sollte es einen Waffenstillstand geben. Die Konfliktparteien müssen Vertrauen aufbauen und den Waffenstillstand nicht unter dem geheimen Vorbehalt schließen, den Krieg erneut zu beginnen. In der zweiten Phase soll sich ein dauerhafter Frieden entwickeln. Dazu müsse ein föderaler Staatenbund in Europa gegründet werden, der diesen dauerhaften Frieden „begleitet“. Darüber hinaus sollte jeder europäische Staat rechtsstaatliche Bedingungen schaffen: zum Beispiel Gleichheit vor dem Gesetz und „freie Lebensart“. Nach meiner Ansicht können die von mir nur grob skizzierten Bedingungen, Kriege zu beenden auch heute noch ein Modell sein, Kriege auf der Welt, nicht nur in Europa, einer Lösung zuzuführen.
Immanuel Kant hat in seiner Schrift auch den Grundstein für unser heutiges Asylrecht gelegt: Er forderte, dass Menschen, die in ihren Staaten von „physischer Vernichtung“ bedroht sind, in den europäischen Staaten ein Gastrecht erhalten sollen. Diesen Aspekt stellen wir in unserem Themenheft ausführlich dar.
Warum ist Kants Menschenwürdeformel auch heute noch aktuell?
Barbara Brüning: Kant hat in der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ zusätzlich zum Kategorischen Imperativ die sogenannte Menschenwürdeformel entworfen: Jeder Mensch hat seinen Zweck in sich selbst und darf nicht von anderen Menschen als Mittel verwendet werden, d.h. jede Form von Sklaverei und Rassismus wird dadurch ausgeschlossen. Diese Menschwürdeformel prägt die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und den Art. 1 des Grundgesetzes. Sie gilt für alle Menschen, auch für Frauen und Menschen unterschiedlicher Hautfarbe. Kant konnte sich allerdings nicht dazu entschließen, obwohl er die Französische Revolution von 1789 begrüßte, die französische Philosophin Olympe der Gouges (1748-1793), die 1793 durch die Guillotine starb, in ihrem Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter durch die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ zu unterstützen. Er dachte bei vielen Problemen seiner Zeit voraus, nicht aber in Bezug auf die Geschlechtergerechtigkeit.
Gibt es auch etwas Amüsantes über Kant?
Barbara Brüning: Kant war ein geselliger Mensch. Er gab mittags um Eins regelmäßige Tischgesellschaften. Wer nicht pünktlich war, durfte nicht mitessen. Und über Philosophie durfte nicht gesprochen werden. Auch Frauen waren keine Teilnehmerinnen. Auf einer dieser Tischgesellschaften soll Kant gesagt haben, dass er als junger Mensch kein Geld hatte, eine Familie zu gründen und als alter Mann keine Frau mehr gebrauchen könne. Wahrscheinlich war er zu sehr mit seinen philosophischen Theorien beschäftigt. Die Philosophin Ursula Pia Jauch hat über „Friedrichs Tafelrunde und Kants Tischgesellschaften“ ein Buch geschrieben, aus dem auch Texte in der Sekundarstufe II gelesen werden können, die einen anderen Blick auf Immanuel Kant, die Aufklärung und die preußische Gesellschaft ermöglichen.
Zur Person
Barbara Brüning war Professorin für Philosophiedidaktik in Hamburg und ist Herausgeberin und Autorin zahlreicher Lehrwerke und Sachbücher für den Philosophie- und Ethikunterricht im Cornelsen Verlag.