Unterricht gestalten / 19.04.2024

Wie Lernstationen interdisziplinäres und vernetztes Lernen fördern

„Die Kinder übernehmen Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess“

Schulunterricht ist in der Regel in Fächer aufgeteilt, die Welt nicht. Was liegt also näher als Fächer-übergreifendes, vernetztes Lernen zu fördern, damit Schülerinnen und Schüler die Welt verstehen? Genau dieses Konzept steckt hinter der Buchreihe Lernstationen für die Sekundarstufe I, herausgegeben von Prof. Ingo Wagner und seiner Kollegin Simone Neher-Asylbekov. Wir haben Herrn Wagner gefragt, wie dieses Lernen konkret funktioniert und wie sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrkräfte davon profitieren können.

Bild: Shutterstock.com/YAKOBCHUK VIACHESLAV

Herr Wagner, den Begriff Stationenlernen kenne ich eher aus der Grundschule. Sie haben aber Lernstationen für die weiterführenden Schulen entwickelt. Ist das etwas ganz anderes?

Ingo Wagner: Stationenlernen ist prinzipiell für alle Schulformen und Schulstufen geeignet. Wichtig ist, dass das Material sehr gut vorbereitet ist und dass Lehrkräfte damit leicht und einfach arbeiten können. Dies gelingt mit unseren Stationen, weil sie ausführlich beschrieben sind, konkretes Arbeitsmaterial mit Modifizierungsmöglichkeiten bereithalten und weil die Kinder dort eigenständig und auf verschiedenen Leistungsniveaus arbeiten können. Durch diese Eigenständigkeit beim Lernen in Stationen übernehmen die Kinder Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess, sie empfinden viel Freude, sind sehr motiviert und lernen gleichzeitig viel Neues.

Ihre Lernstationen sind interdisziplinär. Der Unterricht ist aber nach wie vor in der Regel in Fächer aufgeteilt. Wie kann da interdisziplinäres Lernen funktionieren?

Ingo Wagner: Das Schöne an unseren Stationsausarbeitungen ist, dass sie die Bezüge zu den einzelnen Fächern deutlich machen. Das heißt, die Lehrkräfte können aus ihrem Fachunterricht heraus dieses Material nutzen, an den Unterricht anbinden und trotzdem fachübergreifende Bezugspunkte und vernetztes Denken ermöglichen. Das gewährleisten wir unter anderem durch klare Angaben, wie das an den Lehrplan angebunden werden kann, welche Schulstufen und Alterssegmente sich besonders eignen und indem wir auch deutlich machen, wo jeweils die fachlichen Hintergründe für die Vernetzungen liegen.
 

Das heißt, Lehrkräfte aus verschiedenen Fächern müssen zusammenarbeiten?

Ingo Wagner: Es ist durchaus möglich, das Stationenlernen nur in einem Fach anzubieten. Und dann über den Tellerrand hinaus Anknüpfungspunkte aufzuzeigen, aber verwurzelt im eigenen Fach zu bleiben. Wenn es sich anbietet, dann ist es optional möglich, auch mit anderen Lehrkräften aus anderen Fächern zusammenzuarbeiten, das ist aber nicht zwingend notwendig. Ganz oft wird bei diesen Inhalten der Sekundarstufe I auch sehr schnell deutlich, wie ein bestimmter Inhalt, der sonst beispielsweise im Fach Biologie besprochen wird, auch im Sporttreiben der Kinder, in der körperlichen Bewegung verwurzelt ist, wie aber vielleicht auch mit chemischen Hintergründen etwas untersucht werden kann, wie sich die Bewegung mathematisch fassen lässt oder wie physikalisch bestimmte Abläufe erklärt werden können. Das ist durchaus auch für eine Lehrkraft, die aus einem anderen Fach kommt, sehr gut nachvollziehbar, weil wir es sehr klar beschrieben haben. Es wäre natürlich schön, wenn sich direkt mehrere Lehrkräfte zusammen dazu austauschen würden und etwas probieren wollten. Wir haben aber in Deutschland auch den Vorteil, dass die meisten Lehrkräfte ohnehin zwei Fächer studiert haben und auch unterrichten. Manche sogar mehr. In der Regel hat eine Lehrkraft also bereits einen Überblick über verschiedene Fächer und kann Verbindungen zwischen den Fächern herstellen, für die sie ausgebildet worden ist.


Wie profitieren die Schülerinnen und Schüler vom Stationenlernen?

Ingo Wagner: Wir haben unsere Lernstationen so entwickelt, dass sie neugierig auf weitere Inhalte machen. Sie motivieren die Kinder sehr stark beim Lernen, weil es außerhalb eines klassischen Unterrichts geschieht und auf das vernetzte Denken zielt. Insofern bieten unsere Lernstationen ganz neue Perspektiven und Möglichkeiten für die Kinder beim Lernen Dinge zu verknüpfen, problemorientiert zu lernen und in größeren Kontexten zu denken.

„Differenzierung ist für uns ein ganz wichtiger Aspekt“

Und wie funktioniert die Differenzierung?

Ingo Wagner: Differenzierung ist für uns bei der Entwicklung der Stationen ein ganz wichtiger Aspekt gewesen. So gibt es Aufgaben für besonders schnelle Kinder. Wir bieten aber im Material auch Unterstützungsmaßnahmen mit sogenannten Infoboxen und Hilfskarten und stellen Lösungskarten für das selbstständige Abgleichen zur Verfügung. Damit können die Kinder ihre Lösungen überprüfen, ohne eine Lehrkraft fragen zu müssen. Das bedeutet, alle Kinder können verschiedene Aufgaben in ihrem Arbeitstempo bearbeiten und sich selbständig rückversichern, ob das Gelernte auch richtig ist.

Lassen sich die Lernstationen modifizieren?

Ingo Wagner: Für die Lehrkräfte ist es von Vorteil, dass wir einen modularen Aufbau bereitstellen, sodass sie sehr schnell einen inhaltlichen Überblick bekommen, wenn sie die ausführliche Darstellung dieser Unterrichtssequenz nachlesen. Wir haben die Stationen in bestimmte Anknüpfungspunkte - zum Beispiel an die Lehrpläne oder an die Relevanz und den Lebensweltbezug – gegliedert und machen ausführlich Methoden und didaktische Sachverhalte deutlich. Außerdem legen wir die antizipierten Ergebnisse mit den Lösungskarten dar, sodass Lehrkräfte damit selbst entscheiden können, welches Material sie wie für ihre jeweilige Lerngruppe einsetzen möchten.

Wie muss man sich das Stationenlernen konkret vorstellen?

Ingo Wagner: Wir haben rund 30 Stationen entwickelt, die alle nach Bezugsfächern sortiert sind. Beispielsweise haben wir im Fach Biologie eine Station zum Richtungshören im Raum und verbinden das mit Blindenfußball, wir haben aber auch chemische Hintergründe zu Proteinshakes und Kältekompressen, die im Sport eingesetzt werden, wir haben in der Physik Stationen zu bestimmten Wurfbewegungen, die die Kinder ausführen können, also viele Alltagsbezüge zu Bewegungen, zum eigenen Körper der Kinder. Wir haben in der Mathematik und Informatik zum Beispiel die Steuerung von Robotern oder - was viele auch kennen - den mathematischen Hintergrund zum „Haus des Nikolaus“.

Ingo Wagner
Bild: Cornelsen/Prof. Dr. Ingo Wagner

Ingo Wagner

Praxisnähe ist ein verbindendes Merkmal, das sich durch alle Stationen zieht.

Haben Sie den Einsatz der Lernstationen auch evaluiert?

Ingo Wagner: Wir haben regelmäßig Schulklassen zu Besuch in unserem Schülerlabor, in dem wir diese Lerneinheiten über Jahre entwickelt, eingesetzt und verbessert haben und jetzt das optimierte Produkt bei Cornelsen veröffentlichen konnten. In dem Prozess haben wir sehr viele positive Rückmeldungen bekommen, auch Verbesserungsvorschläge, die wir eingearbeitet haben. Wir haben zusätzlich anhand der Rückmeldungen von Schülerinnen und Schülern, aber auch von Lehrkräften vertiefte Evaluationen durchgeführt. Es freut mich auch, dass wir für unsere Lernstationen im Schülerlabor mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden sind, unter anderem gestiftet vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Sind Lernstationen auch für andere Fächer denkbar?

Ingo Wagner: Wir haben Stationen für eine ganze Reihe von Fächern entwickelt: Biologie, Chemie, Physik, Technik, Mathematik, Informatik und Sport. Prinzipiell ist vernetztes Denken auch für alle anderen Fächer denkbar, und wir sind tatsächlich gerade dabei, weitere Unterrichtseinheiten zu entwickeln, insbesondere mit Schwerpunkten zu Digitalisierung und Nachhaltigkeit.


Zur Person
Dr. Ingo Wagner ist Professor und Leiter des Arbeitsbereichs für interdisziplinäre Didaktik der MINT-Fächer und des Sports am Institut für Schulpädagogik und Didaktik (ISD) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT).

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