Beutelsbacher Konsens für Meinungsfreiheit und Überwältigungsverbot
Was die Grundsätze für die politische Bildung für den Cornelsen Verlag bedeuten – ein Gespräch mit Cornelsen-Redakteurin Britta Köppen
Der Beutelsbacher Konsens ist das Ergebnis einer Tagung von Politikdidaktikerinnen und Politikdidaktikern, die 1976 im baden-württembergischen Beutelsbach stattfand. Der Konsens entstand vor dem Hintergrund der damals sehr kontrovers geführten Debatten um Ziele und Aufgaben der Politischen Bildung. Obwohl es über den Konsens keine Abstimmung gab, legt er bis heute die Grundsätze für die politische Bildung fest. Er richtet sich in erster Linie an Lehrkräfte und andere Akteurinnen und Akteure der politischen Bildung. Doch was ist mit den Schulbüchern? Schließlich bilden sie in der Regel die Grundlage für den Unterricht. Das haben wir Britta Köppen gefragt. Sie ist verantwortlich für die gymnasialen Geschichtslehrwerke im Cornelsen Verlag.
Auf den Punkt gebracht: die drei Elemente des Beutelsbacher Konsenses
Überwältigungsverbot: Es ist nicht erlaubt, die Schülerinnen und Schüler - mit welchen Mitteln auch immer - im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der "Gewinnung eines selbstständigen Urteils" zu hindern.
Kontroversitätsgebot: Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
Schülerorientierung: Die Schülerinnen und Schüler müssen in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und ihre eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen.
Überwältigungsverbot
Frau Köppen, welche Bedeutung hat eigentlich der Beutelsbacher Konsens für Cornelsen?
Britta Köppen: Diese Prinzipien bilden die Grundlage für die Bildungsmedien, die wir erstellen. An diesen Kriterien werden wir gemessen. Das heißt: Wir dürfen nicht indoktrinieren, wir müssen fachwissenschaftlich korrekt arbeiten, und das, was in der Forschung oder auch im öffentlichen Diskurs kontrovers diskutiert wird, im Buch, im Bildungsmedium kontrovers darstellen.
Ist dabei nicht das Überwältigungsverbot für Sie eher zweitrangig, weil es sich hauptsächlich an die Lehrkräfte richtet?
Britta Köppen: Ich würde das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot eher gemeinsam betrachten. Das heißt, wir müssen immer verschiedene Perspektiven auf ein Thema, auf eine Frage berücksichtigen. Das betrifft sowohl den Darstellungstext, der nicht wie ein auktorialer Erzähler fungieren darf, sondern der das, was kontrovers ist, auch kontrovers benennt. Und die Materialauswahl muss dem auch entsprechen. Natürlich dürfen wir keine parteipolitischen Standpunkte vertreten oder Werbung machen.
Was bei uns noch dazu kommt und das erleichtert uns bei Kritik manchmal die Begründung: Nicht wir allein bestimmen, welche Inhalte wir in ein Buch aufnehmen, sondern wir müssen die jeweiligen Lehrpläne als Grundlage heranziehen. Und die durchlaufen ein formalisiertes Verfahren, was im guten demokratischen Sinne auch als Prüfinstanz fungiert. Ein Lehrplan wird eben nicht vom Kultusministerium vorgegeben, sondern von den eingesetzten Arbeitsgruppen erarbeitet, und in öffentlichen Anhörungen im parlamentarischen Verfahren verabschiedet. Diese Lehrpläne sind für uns die Grundlage zur Auswahl von Inhalten und Materialien.
Dazu kommt, dass wir in den meisten Fällen mit unseren Büchern ein Genehmigungsverfahren durchlaufen. Wie umfassend die Prüfung durchgeführt wird, ist abhängig von den Bundesländern und vom Fach. Aber letztendlich ist es für uns eine Beruhigung, weil es auch noch einmal eine fachlich inhaltliche Prüfung ist. Und auch die Gutachter*innen/diejenigen, die begutachtet, arbeiten auf der Basis des Beutelsbacher Konsenses.
Kontroversitätsgebot
Aber das Kontroversitätsgebot ist für Sie, glaube ich, schon ein entscheidender Punkt?
Britta Köppen: Unsere Bücher sind ja im Grundsatz so aufgebaut, dass wir einen Darstellungstext haben, der von unseren Autoren geschrieben ist. Daran schließt sich - das ist eine zentrale Anforderung an moderne Geschichtsbücher - ein Materialteil an, mit dem die Schülerinnen und Schüler selbstständig auch historische Inhalte erarbeiten können, und zwar erschlossen durch Arbeitsaufträge.
Daneben haben wir Sonderseiten, unter anderem Methodenseiten, mit denen das methodische Handwerkszeug für historische Analysen und Interpretationen trainiert werden soll und kann.
Wir haben in die Materialteile eine eigene Rubrik Geschichte kontrovers eingefügt, in der zwei Meinungen gegeneinandergestellt werden. So haben wir zum Beispiel die Kontroversen, die es um die Eröffnung des Humboldt-Forums gab, in unsere Bücher aufgenommen.
Schülerinnen- und Schülerorientierung
Und wie gelingt die Schülerinnenorientierung?
Britta Köppen: Für den Unterricht ist Schülerorientierung erklärtes Ziel, indem Schülerinnen und Schüler zum Beispiel im Geschichtsunterricht befähigt werden sollen, historische Quellen und Darstellungen kritisch zu analysieren und sich einen eigenen Standpunkt dazu zu erarbeiten.
Mit den bereits erwähnten Methodenseiten regen wir zur kritischen Analyse und Interpretation von verschiedenen historisch wichtigen Gattungen an. Das sind zum Beispiel Quellen und Darstellungen von Historikern und Historikerinnen. Da viele politische Themen und Fragestellungen eine historische Genese haben, spielt das durchaus auch in den Bereich der politischen Bildung hinein. Gerade im Themenbereich Geschichts- bzw. Erinnerungskultur zeigen die teilweise heftigen Auseinandersetzungen um Denkmäler, Straßenumbenennungen, Museen und Gedenktage, dass Deutungen der Geschichte stets auch ein Politikum sind. Die Schülerinnen und Schüler zur „historischen Urteilsfähigkeit“ zu befähigen, ist zentrales Ziel eines modernen Geschichtsunterrichts. Es geht in den Büchern aber auch um aktuelle Themen, etwa den digitalen Raum. Zum Beispiel wird in einem Geschichtslehrwerk für die Sekundarstufe 1 die Frage gestellt: Wie erkenne ich Fake News? Es geht hier also nicht um die Auseinandersetzung mit speziellen Inhalten, sondern darum, dass die Schülerinnen und Schüler überhaupt dafür sensibilisiert werden, dass nicht alles, was im Internet publiziert wird, wahr sein muss.
Britta Köppen
Senior-Redakteurin für GesellschaftswissenschaftenWir sind nicht gefeit davor, Fehler zu machen.
Gab es denn schon einmal, zum Beispiel von Seiten der Prüfinstanzen, Vorwürfe, Sie hätten sich nicht an den Beutelsbacher Konsens gehalten?
Britta Köppen Nein, im Rahmen des Gutachterverfahrens habe ich das noch nie erlebt. Wir bekommen von Nutzerinnen und Nutzern immer mal wieder Rückmeldung oder Kritik - sachliche oder unsachliche. Und weil das teilweise sehr erregte Debatten nach sich zieht, haben wir uns mittlerweile ein Netzwerk geschaffen, in dem wir Inhalte zu bestimmten Themen - etwa Antisemitismus, Nahostkonflikt oder Kolonialismus - von externen Gutachtern fachwissenschaftlich prüfen lassen. Auch wir sind nicht gefeit davor, Fehler zu machen oder blinde Stellen zu haben. Zum Beispiel was die Wortwahl angeht oder das Zusammenspiel zwischen Bild und Text, das sehr komplex ist.
Ich kann ein Beispiel nennen. Es geht um ein Geschichtsbuch für Berlin-Brandenburg, das wir vor einigen Jahren herausgegeben haben. Im Lehrplan war das Thema „Zusammenspiel der Religionen“ vorgesehen - also Judentum, Christentum und Islam. Mit sogenannten Auftaktseiten – das sind Doppelseiten, auf denen wir großformatige Bilder präsentieren - leiten wir immer in ein Kapitel ein. Und dafür ist dann, sicherlich auch, weil es so tagesaktuell war, ein Bild ausgewählt worden, das eine Demonstration in Paris im Kontext mit dem Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo zeigte. Und vor zwei Jahren hat uns dann eine Lehrerin gefragt, wie man denn so ein Kapitel, in dem es eigentlich um das Miteinander der drei Weltreligionen geht, mit diesem Bild einleiten könnte, das quasi den Islam auf islamistischen Terror verkürzt. Wir haben uns das daraufhin erneut angeguckt und mit diesem Abstand von mehreren Jahren und der inzwischen erfolgten Sensibilisierung war uns innerhalb der Redaktion sofort klar: Ja natürlich, das transportiert eine Botschaft, die überhaupt nicht intendiert war. Es war eher aus der Überlegung gewählt worden, dass sich auf dieser Demonstration Vertreter aller Weltregionen gegen diese terroristischen Angriffe zusammengefunden hatten. Aber das transportierte das Bild gar nicht mehr und wir haben es dann im nächsten Nachdruck ausgewechselt.
Auch die Nicht-Bebilderung kann problematisch sein, wenn zum Beispiel gesellschaftliche Minderheiten auf den Bildern nicht vorkommen. All das kann eine eigene – unbeabsichtigte - Message zwischen den Zeilen transportieren. Deswegen haben wir im Verlag oft Fortbildungen zu diesen Themen. Wir haben auch dazugelernt und lernen noch immer, denn die politischen Diskussionen sind erregter, sensibilisierter und aufgrund der Sozialen Medien viel schneller geworden.
Ist für Sie also der Beutelsbacher Konsens etwas Positives. Etwas, was Ihnen in Ihrer täglichen Arbeit auch eine gewisse Sicherheit gibt?
Britta Köppen: Ja, das würde ich schon sagen. Der Beutelsbacher Konsens ist eine gute und sinnvolle Grundlage unserer Arbeit. Und er ist wichtig hinsichtlich fundamentaler Werte, wie zum Beispiel der Demokratieerziehung, die uns sehr am Herzen liegt. Dafür engagieren wir uns in vielen unterschiedlichen Zusammenhängen, aktuell zum Beispiel bei der Aktion #IchStehAuf.
Zur Person
Britta Köppen ist Senior-Redakteurin für Gesellschaftswissenschaften im Cornelsen Verlag.