Diversität beginnt im Team
Wo fängt kulturelle Aneignung an und wo hört sie auf?
Wie viele Großmütter tragen heute noch Dutt? Warum sitzen Menschen mit Behinderungen auf Fotos immer im Rollstuhl? Der Diskurs rund um die Themen Diversity und Inklusion nimmt bei der Entwicklung von Lehrwerken einen immer höheren Stellenwert ein. Gut so, schließlich sollen Schulbücher die gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden. Dass diese nicht nur vielfältig ist, sondern sich auch ständig weiterentwickelt, ist für die Redaktionsteams Herausforderung und Chance zugleich.
Beitrag von Stefanie Barthold
Die Balance im Buch muss stimmen
Wann ist ein Lehrwerk divers genug? Diese Frage begleitet Ninja Süßenbach schon seit dem Studium. 2001 kam sie als Deutsch-Redakteurin zu Cornelsen, inzwischen widmet sie sich den Kulturwissenschaften und somit Fächern wie Ethik, in denen es ausdrückliches Lernziel ist, Schüler/-innen für Diversität zu sensibilisieren. Das gelingt neben gendergerechter Sprache etwa durch klischeefreie Bebilderung. „Ich finde es wichtig zu akzeptieren, dass man nicht immer alle Facetten in einer Illustration abbilden kann und muss“, sagt Ninja Süßenbach. Lieber sorgt sie innerhalb eines Buches für ein gutes Gleichgewicht.
Das Ethik-Lehrwerk ethikos für die Klasse 5 in Bayern behandelt unter anderem Themen wie Vorurteile und Stereotype, unterschiedliche Familienformen oder Feste in verschiedenen Religionen. Ideal, um Schüler/-innen den Wert von Vielfalt nahezubringen. Die Kunst, so Ninja Süßenbach, liege dabei in der didaktischen Reduktion: „Wie schaffen wir es, die so genannten Weltreligionen abzubilden, ohne dabei zwingend eine Muslima mit Kopftuch oder einen Juden mit Schläfenlocken zu zeigen?“ Zum Beispiel, indem die Illustratorin mit farbigen Schatten und Andeutungen arbeitet oder Menschen darstellt, die dem Stereotyp eben nicht ganz entsprechen. Auf diese Weise entsteht wertvoller Interpretationsspielraum.
Ein viel diskutierter Schwerpunkt im Team von Ninja Süßenbach war in diesem Jahr der geschlechtergerechte Sprachgebrauch. Aktueller Anlass: Der Duden entfernte das generische Maskulinum aus seinem Online-Wörterbuch. Auch der Themenkomplex Antisemitismus ist zuletzt wieder verstärkt in den Blick gerückt. Doch in diesen Bereichen gibt es relativ klare Vorgaben der Kultusministerkonferenz und des Rechtschreibrats, an denen sich die Redaktionen orientieren können.
Anders sei das bei den People of Color (PoC). Dieses Feld liegt Ninja Süßenbach sehr am Herzen. „Wir müssen uns fragen: Was wollen wir zeigen – die Ist-Gesellschaft oder eine Idealgesellschaft? Und wenn wir eine Idealgesellschaft zeigen wollen, was ist denn ideal? Und vor allem: Wie vermeiden wir unpassende Zuschreibungen aufgrund von Hautfarbe?“ Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es nicht. Stattdessen empfiehlt die Redakteurin, bei den PoC besonders sensibel hinzuschauen, um Ausgrenzung zu vermeiden.
In der Cornelsen-Produktentwicklungsgruppe „Diversity & Inclusion“ hilft Ninja Süßenbach, Leitfäden und Checklisten für alle Mitarbeitenden zu gestalten. Das macht ihr auch deshalb Freude, weil sie weiß: „Wir alle tappen mal in eine Falle oder übersehen etwas. Diversity ist ein riesengroßes Lernfeld. Und ein Prozess.“
Mit wenigen Worten viel richtig machen
In diesem Prozess befinden sich auch Ulrike Bobzin und Mirjam Löwen aus der Deutsch-Redaktion für die Grundschule schon seit vielen Jahren. Die größte Herausforderung bei der Darstellung von Diversität in Grundschullehrwerken besteht für die Redakteurinnen darin, komplexe Sachverhalte in kurzen, verständlichen Worten zu beschreiben. Nicht immer fällt das leicht, denn gendersensible Sprache verlangt häufig nach Ausführlichkeit und Detailgenauigkeit.
Dafür gibt es in Grundschulbüchern viel Platz für Abbildungen – und damit Spielraum für geübte Illustratorinnen und Illustratoren, die Perspektive der Schüler/-innen zu erweitern. „Ich bin jetzt 21 Jahre bei Cornelsen“, sagt Mirjam Löwen, „und schon immer haben wir uns im Team viele Gedanken um eine ausgewogene Darstellung von Situationen und Personen gemacht.“ Manche Kultusministerien legen schon seit langem Wert darauf, dass etwa gleich viele Jungen und Mädchen im Buch vorkommen, doch der Fokus der Redakteurinnen geht weit über derlei Rechenaufgaben hinaus. Namen zu zählen und auch geschlechtsneutrale Namen oder solche aus anderen Kulturkreisen zu verwenden, ist wichtig, aber genügt nicht. Auch sind berechtigterweise der „Indianer“ und der klischeehaft dargestellte „Chinese“ längst aus der Anlauttabelle verschwunden.
Doch nicht immer sind es so eindeutige Aspekte, die das Redaktionsteam beschäftigen. Dazu Mirjam Löwen: „In der Grundschule wird die heterogenste Gruppe von Kindern zusammen unterrichtet. Hier ist es von besonderer Bedeutung, mit Feingefühl vorzugehen, seinen Blick zu weiten und auf schmalem Platz mit wenigen Worten viel abzubilden.“ Ulrike Bobzin ergänzt: „Man kann dafür keine Regel aufstellen, sondern muss individuell, von Seite zu Seite, beurteilen, was sich richtig anfühlt. Aber das ist zugleich eine Aufgabe, die Freude macht.“
Im Lehrwerk Tinto nehmen Tim, Fatma, Jonas und Lena die Schüler/-innen mit in ihren Alltag. Fatmas Eltern kommen aus der Türkei, Jonas’ Vater stammt aus Nigeria. Dem Redaktionsteam ist es wichtig, dass die Buchkinder eine große kulturelle und biografische Vielfalt aufweisen. Ansatz und Ziel: nicht mit dem Finger auf Unterschiede zu zeigen, sondern Diversität eher subtil und beiläufig zu transportieren. Das gelingt zum Beispiel in Wimmelbildern: Sie kommen ohne erklärenden Text aus und lassen damit Raum für eigene Assoziationen und Interpretationen. Solche bewussten Uneindeutigkeiten gefallen Ulrike Bobzin am besten: „Genau wie es offene Aufgaben gibt, gilt das auch für Illustrationen. Es ist toll, wenn es gelingt, in einem Lehrwerk Vielfalt abzubilden, ohne sie zum Gegenstand zu machen.“
Das Verlagswesen darf diverser werden
Die Redakteurin Menemsha MacBain und die Produktmanagerin Carina vom Hagen betreuen die Lehrwerksreihen zur Berufsausbildung in sozialen Berufen. Auch ihr Team erlebt seit Jahren, wie komplex und zugleich elementar erforderlich es ist, Diversity in Schulbüchern abzubilden. Darüber immer wieder intensiv zu diskutieren, um Schwachstellen aufzudecken und mit viel Fingerspitzengefühl Lösungen zu finden, ist für die Kolleginnen selbstverständlich. Sie beschreiben drei Bereiche, auf die sie achten, um Vielfalt sichtbar und spürbar zu machen:
- die Repräsentation, also beispielsweise diskriminierungsfreie Abbildungen und geschlechtergerechte Sprache
- das Schaffen von barriereärmeren Zugängen, also Brücken zu bauen und zum Beispiel Differenzierung anzubieten für Lernende mit weniger guten Deutschkenntnissen oder Hörbeeinträchtigungen
- die ständige Bemühung, Diversität von Anfang an in den produzierenden Teams mitzudenken.
Der dritte Aspekt ist für Menemsha MacBain und Carina vom Hagen der wichtigste. Diversity beginnt für sie im Team. „Das Verlagswesen ist noch sehr homogen“, sagt Menemsha MacBain. „Wir sind überwiegend weiblich, Mittelschicht, weiß, straight. Das müssen wir uns bewusst machen und davon ausgehend gezielt versuchen, auch Stimmen zu finden, die andere Perspektiven beitragen.“ Ihre Kollegin Carina vom Hagen fügt hinzu: „Wer in einer privilegierten Position und Gesellschaftsschicht ist, hat beispielsweise mit Blick auf Rassismus oder Ableismus automatisch blinde Flecken. Das sollten wir anerkennen und uns als Lernende in einem kontinuierlichen Prozess begreifen.“
Dass eine solche Grundhaltung zu guten Ergebnissen führt, zeigt unter anderem die Lehrwerksreihe zur Heilerziehungspflege. Dafür hat das Team schon vor vielen Jahren einen heterogenen Kreis von Autor/-innen zusammengestellt, zu dem auch Menschen mit Behinderungen gehören. Der praktische Wert vielfältiger kultureller Hintergründe wird in der täglichen Zusammenarbeit der Kolleginnen unmittelbar erfahrbar: Als Amerikanerin fallen Menemsha MacBain andere kritische Aspekte ins Auge als ihren in Deutschland aufgewachsenen Kolleginnen. Daraus entstehen wichtige Gespräche, die das eigene Blickfeld erweitern.
Um auch den Bereich der Repräsentation künftig noch authentischer gestalten zu können, würden sich die Kolleginnen über einen größeren Pool an geeigneten Stockfotos – also an vorproduzierten, meist über Bildagenturen vertriebenen Fotos – freuen. „Wir stoßen immer wieder an Grenzen, weil unter Diversity im Stockbereich leider immer noch vorwiegend die Darstellung verschiedener Hauttöne verstanden wird“, so Menemsha MacBain. Um die gesellschaftliche Realität abzubilden, müssen aber zum Beispiel auch vielfältige Körperformen, Frisuren und eine große Bandbreite kultureller Identitäten Raum bekommen. Auch das Leben von Menschen mit Behinderungen wird in der Stockfotografie noch zu selten authentisch repräsentiert.
Auch in Mathe-Aufgaben lassen sich Stereotype vermeiden
Neben guten äußeren Rahmenbedingungen braucht es den Erfahrungen der Redaktionsteams zufolge vor allem zwei Dinge, um Lehrwerke diversitäts- und inklusionssensibel zu gestalten: ein Bewusstsein für die eigenen Privilegien und die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln. Ganz egal, in welchem Fachbereich. „Auch in Mathe-Textaufgaben“, sagt Ninja Süßenbach, „können Stereotype vermieden und Vielfalt gezeigt werden.“ Wer übt, das Gewohnte immer wieder zu hinterfragen und seine blinden Flecken zu beleuchten, lernt viel dazu. Denn ein Diversity-Mindset entsteht aus einer aufgeschlossenen inneren Haltung heraus. Und entfaltet sich im Miteinander.