Interview: Sprachsensibilität
„Sprachsensibilität ist eine personenbezogene Kompetenz“
Zugang ermöglichen, das Verstehen fördern, die kommunikative Kompetenz verbessern — das sind Ziele sprachsensibler Unterrichtsmaterialien. Warum Sprachsensibilität ein Qualitätsmerkmal guten (Fach-)Unterrichts ist, erläutert Gabriele Biela. Gemeinsam mit Prof. Dr. Birgit Werner von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und einem interdisziplinären Team des Cornelsen Verlags entwickelte sie einen Kriterienkatalog zur sprachsensiblen Gestaltung von Unterrichtsmaterialien.
Frau Biela, was ist Sprachsensibilität?
Eine personenbezogene Kompetenz. Die Bereitschaft und Fähigkeit, fachliche Inhalte mal nur aus sprachlicher Perspektive zu betrachten. Welche sprachlichen Voraussetzungen und möglichen Stolperstellen gibt es und wie kann ich auf dieser Basis Inhalte gut und einprägsam vermitteln?
Bei Unterrichtsmaterialien geht es um Klarheit, Eindeutigkeit und um eine Fokussierung aufs Wesentliche. Aber sprachsensible Gestaltung bedeutet nicht per se Vereinfachung. Es ist wichtig, auf sprachliche Hürden und auf sprachliches Potenzial zu achten. Beides ist von Bedeutung, um Fachinhalte so darzustellen, dass inhaltliche Komplexität erhalten bleibt, aber in einer Sprache, die für die Zielgruppe zugänglich ist.
Wie kann das konkret aussehen?
Nehmen wir ein Beispiel aus einem Mathebuch. Im Kapitel zum Thema Teilbarkeit hieß es zunächst: „Welche Süßigkeiten lassen sich leicht aufteilen? Wie würdest du die anderen Süßigkeiten aufteilen?“ Um Passiv und Konjunktiv zu vermeiden und einheitlich zu formulieren, lauten die Fragen nun: „Welche Süßigkeiten kannst du leicht aufteilen? Wie kannst du die anderen Süßigkeiten aufteilen?“ Denn sprachliche Varianz hilft hier nicht, sondern kann das Verstehen erschweren.
Ein anderes Beispiel: Wortbildung – das ist nicht nur ein Deutsch-Thema. Die Fähigkeit, Wörter zu zerlegen und neue Wörter zu bilden, verbessert signifikant die Lese- und Lernleistung. Beim Thema Teilbarkeit gibt es in der Mathematik den Begriff der Teilermenge – nicht zu verwechseln mit der Teilmenge. Wenn ich den Begriff Teilermenge erläutere, indem ich auch die Wortbildung verdeutliche, dann hilft das beim Verstehen und Merken.
Was leistet der Kriterienkatalog?
Er dient als Leitfaden und schafft Standards, anhand derer wir zeigen können, dass unsere Lehrwerke sprachsensibel gestaltet sind und was genau wir darunter verstehen. Und er enthält konkrete Beispiele mit methodischen Anregungen.
Der Kriterienkatalog ist zweigeteilt in Strategien zum Kompetenzaufbau und in kompensatorische Maßnahmen, die sich auf die sprachliche und optische Ausgestaltung beziehen. Die 56 Kriterien für Sprachsensibilität sollen künftig konzeptioneller Bestandteil jeder Lehrwerksreihe sein. Ziel ist das Ermöglichen von kommunikativer Teilhabe am Unterricht – für alle Leistungsniveaus. Im Fokus stehen aber Schüler/-innen der heterogenen mittleren Schulformen, die sprachliche Hürden zu überwinden haben und bei denen Förderbedarf besteht.
Warum sollten sich Autor/-innen stärker mit Sprachsensibilität auseinandersetzen?
Alle Inhalte haben mit Sprache zu tun – hier liegt unglaublich viel Potenzial, die fachsprachliche Entwicklung der Lernenden systematisch zu unterstützen. Außerdem gewinnen auch Lehrende neue Erkenntnisse und können so die fachlichen Inhalte noch besser und anschaulicher vermitteln.