Was das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz für unsere Produkte bedeutet
Interview mit Anika Schill
Nur wenn digitale Produkte und Dienstleistungen barrierefrei sind, können Menschen mit Behinderung gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben. Wie also können gehörlose und sehbehinderte Menschen im Internet surfen? Wie können sie ein Video genießen? Wie kaufen sie online ein, wenn sie keine Maus bedienen können? Und wie muss ein Text formuliert und präsentiert werden, damit möglichst viele Menschen ihn verstehen? Antworten auf diese Fragen müssen Unternehmen bis zum Juni 2025 gefunden haben, dann nämlich gilt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz auch für die Privatwirtschaft. Was bedeutet dies für Verlage und wie stellen sie sich diesen Aufgaben? Das haben wir Anika Schill gefragt, sie ist EdTech-Consultant im Cornelsen Verlag und Mitglied des Cornelsen-internen Arbeitskreises Barrierefreiheit.
Bild: Anika Schill
Anika, was schreibt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) konkret vor, beziehungsweise was heißt das für den Cornelsen Verlag?
Anika Schill: Digitale Barrierefreiheit bedeutet, dass digitale Anwendungen für Menschen mit Behinderung zugänglich gemacht werden. Auf unsere Branche bezogen sind es E-Books, E-Reader und E-Commerce-Anwendungen wie Onlineshops.
Das heißt, es geht nicht grundsätzlich um Apps – Lern-Apps zum Beispiel sind davon nicht betroffen?
Anika Schill: Genau. Unser Fokus liegt in der Anfangsphase klar auf den rechtlichen Anforderungen und dazu gehören nicht alle digitalen Lern-Angebote. Wir haben trotzdem gesagt, alle anderen digitalen Produktlinien gehen auch diesen Weg. Das heißt, jedes digitale Team wird die digitale Barrierefreiheit bei Neuentwicklungen und bei Anpassungen von bestehenden Komponenten mitdenken und Schritt für Schritt umsetzen. Denn wir wollen nicht weiterhin Produkte herstellen, die nicht barrierefrei sind und mit denen wir technische Schulden aufbauen würden.
Wenn das Gesetz diese Angebote außen vorlässt, dann scheinen mir die Anforderungen doch ziemlich niedrig gehängt. Ist das richtig?
Anika Schill: Das würde ich so nicht unterschreiben. Zwar ist trotz der rechtlichen Vorgaben noch nicht alles abgedeckt, das ist richtig. Aber es ist trotzdem schon ein sehr großer Schritt. Denn momentan lassen sich zum Beispiel viele Online-Angebote nur mit der Maus bedienen. Und Menschen, die Mäuse nicht bedienen können, unter anderem, weil sie motorisch eingeschränkt sind, können diese Angebote gar nicht nutzen. Das zu ändern ist ein aufwendiger aber ein sehr guter erster Schritt, weil damit vielen weiteren Menschen der Zugang ermöglicht wird. Aber es darf nur der erste Schritt sein. Die Reise wird noch Jahrzehnte weitergehen.
Und wenn ich die Maus nicht bedienen kann, wie wird mir dann der Zugang zu diesem Webangebot ermöglicht?
Anika Schill: Ein alternativer Zugang kann durch die Verwendung der Tastatur ermöglicht werden, insbesondere durch die Nutzung der Tabulatortaste, um sich von einem Element zum nächsten zu navigieren. Die Tastatursteuerung erweist sich auch für blinde oder sehbeeinträchtigte Menschen, die auf Vorlese-Software (Screenreader) angewiesen sind, als besonders entscheidend.
Dann kommen wir jetzt zu den Beteiligten, also zu all jenen, die an diesen Produkten mitwirken. Was bedeuten diese Anforderungen für sie ganz konkret?
Anika Schill: Zunächst einmal: Das Ganze ist weniger ein Projekt als vielmehr ein Prozess. Jeder einzelne Bereich muss jeden Prozessschritt, zum Beispiel bei einer E-Book-Erstellung überdenken und mehr Kriterien hinzuzufügen.
Anika Schill
EdTech-ConsultantMan muss jeden Schritt, der über Jahrzehnte hinweg als selbstverständlich galt, überdenken und neue Lösungsvorschläge finden.
Hast du ein Beispiel?
Anika Schill: Ja. Man sollte sich zum Beispiel bei Aufgabenstellungen nicht mehr darauf verlassen, nur durch Farbe zu unterscheiden. Also „Schau dir das blaue Kästchen an und dann erkläre im grünen Kästchen, worum es geht“, weil eben nicht alle Menschen Farben korrekt wahrnehmen können. Und so muss man jeden Schritt, der über Jahrzehnte hinweg als selbstverständlich galt, überdenken und auf dieser Detailebene neue Lösungsvorschläge finden. Da geht es um die Redaktion, da geht es aber auch um das Layouting, um die Produktion, um unsere ganzen Digitalteams. Tatsächlich ist fast der ganze Verlag involviert — bis hin zum Service Center, denn die Kolleginnen und Kollegen müssen natürlich auch verstehen, wie die barrierefreie Nutzung der digitalen Produkte funktioniert, um in Supportfällen richtig beraten zu können.
Und was bedeutet das konkret für die Arbeit der Autorinnen und Autoren?
Anika Schill: Im Kern geht es darum, alternative Darstellungsformen zu schaffen, wie Alternativ-Texte für Bilder, Untertitel für ausgewählte Videos oder Unterstreichungen als zusätzliches visuelles Unterscheidungsmerkmal neben Farbe.
Die Künstliche Intelligenz spielt eine große Rolle
Hat denn die Anpassung der E-Books auch Auswirkungen auf die gedruckten Werke?
Anika Schill: Bei uns ist das E-Book ja eine 1-zu-1-Abbildung des Print-Lehrwerkes, deswegen machen wir da keine Unterscheidungen und müssen die Veränderungen in den digitalen Produkten auch für die gedruckten übersetzen.
Dann kommen wir zur KI, also zur Künstlichen Intelligenz. Welche Rolle spielt die KI bei dieser ganzen Umsetzung?
Anika Schill: Tatsächlich eine ziemlich große. Ich habe eben das Thema alternative Texte erwähnt. Das ist ein Bereich, der vielen Redakteurinnen und Redakteuren besonders große Kopfschmerzen bereitet hat, weil auf einmal so viel Mehraufwand, so viel zusätzliche Arbeit auf dem Tisch liegt. Wir sind in ersten Erprobungen mit unterschiedlichen KI-Anbietern. Und wir haben schon gesehen, dass sie über einen sehr kurzen Zeitraum hinweg viele Alternativtexte liefern können, die auch qualitativ bereits einen gewissen Standard haben. Sie müssen allerdings intern immer noch weiter angepasst werden. Natürlich wird die Ressource Mensch nicht komplett ausgeklammert, weil die Texte inhaltlich und qualitativ geprüft werden müssen. Aber es macht einen großen Unterschied, ob ich einen kompletten Text neu schreibe oder ob ich einen bereits formulierten Text überprüfe.
Insgesamt klingt das alles doch nach sehr viel Arbeit, ist der Termin Juni 2025 überhaupt realistisch?
Anika Schill: Der Termin ist schon sportlich, aber er kann eingehalten werden. Allerdings kursieren noch immer viele offene Fragen im Raum, nicht nur bei den Verlagen, sondern auch was die Umsetzung des Gesetzes angeht. Jedoch ist wichtig mitzunehmen, dass uns Barrierefreiheit zu verstehen und umzusetzen nur gelingt, wenn wir einfach anfangen. Perfektion ist nicht der Maßstab, sondern vielmehr das Bestreben, für unsere Kundinnen und Kunden immer mehr Barrieren abzubauen. Daher sollten wir uns alle mit dem Thema vertraut machen und gemeinsam wichtige erste Schritte der digitalen Barrierefreiheit gehen.
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)
Bereits seit 2020 ist der barrierefreie Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen in der EU geltender Standard. Im April 2019 hat das Europäische Parlament eine entsprechende Richtlinie für privatwirtschaftliche Angebote erlassen. Deutschland hat diese Richtlinie im Juli 2021 mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in nationales Recht umgesetzt. Es tritt zum 28. Juni 2025 in Kraft.